Schienen als Symbolbild für Streik bei der Bahn
/ 4. Dezember 2022

Ich habe meinen Ururgroßvater naturgemäß nicht kennengelernt, aber ich weiß, wo er vor exakt 100 Jahren gelebt hat: in einem Zinshaus in Ottakring. Er war als sogenannter Bettgeher gemeldet, hat sich dort jede Nacht ein Bett gemietet, in dem tagsüber ein anderer schlief. Ich sehe das Haus, wenn ich aus dem Fenster blicke. Ich wohne – Zufall – gegenüber. Mein Ururgroßvater musste täglich 16 Stunden arbeiten. Er erhielt dafür so wenig Geld, dass er sich nicht einmal ein eigenes Bett leisten konnte. 100 Jahre ist das her – und seither hat sich unser Leben drastisch verbessert.

Dass Arbeitnehmer am steigenden Wohlstand teilhaben konnten, ist nicht vom Himmel gefallen. Der Achtstundentag, die fünf Wochen Urlaubsanspruch, kollektivvertragliche Mindestlöhne oder das Recht auf Mutterschutz waren keine Geschenke der Unternehmer. All das wurde gegen massive Widerstände von einer organisierten Arbeiterschaft in zähen Verhandlungen durchgesetzt. Scheiterten diese, setzte es weitere Druckmittel: Demonstrationen und Streiks.

Hätte nie jemand gestreikt, würde ich heute noch wie mein Ururgroßvater 80 Stunden in der Woche arbeiten, ohne Urlaub, ohne Arbeitsrecht. Verbesserungen lassen sich ohne Druck nicht durchsetzen. Was es bedeutet, wenn hohe Arbeitslosigkeit die Verhandlungsmacht und die Streikbereitschaft der Arbeitnehmer schwächt, konnten wir in den letzten Jahrzehnten beobachten. Die Lohnquote, also der Anteil der Arbeitnehmer am gesellschaftlichen Wohlstand, ist seit 40 Jahren im Sinkflug. Die Arbeitgeber hingegen nehmen sich immer mehr vom gemeinsam erwirtschafteten Kuchen – ihre Gewinne sind gestiegen.

Nun hat sich der Wind allerdings gedreht. Unternehmen suchen so viele Arbeitskräfte wie schon seit 30 Jahren nicht mehr. Das erhöht die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer, die sie angesichts der hohen Preise auch brauchen. Die Kaufkraft unserer Löhne und Gehälter ist in diesem Jahr um vier Prozent gesunken – der höchste Verlust seit mehr als 60 Jahren. Der Grund dafür ist die Teuerung: Die Unternehmen haben ihre Preise rasant angehoben, und zwar auch in Bereichen, wo es gar nicht nötig gewesen wäre, um gestiegene Kosten zu decken. So hat beispielsweise die OMV im Windschatten der Energiekrise ihre Gewinnmarge in Spitzenzeiten verfünffacht. Aber nicht nur die Energie, auch die Mieten wurden schmerzhaft teurer. Ohne substanzielle Lohnerhöhungen schultern die Arbeitnehmer die Kosten der Teuerung allein.

Die Frage, ob Lohnforderungen angemessen sind, lässt sich aus diesem Grund nur mit einem Blick auf die Gewinne und Dividenden beantworten. Solange diese unverändert auf hohem Niveau bleiben, sind die Lohnforderungen jedenfalls nicht überzogen. Wenn die Unternehmen ihre Gewinne nicht teilen möchten, müssen sie damit rechnen, dass Bahnen stillstehen, Pflegekräfte zu Hause bleiben oder Supermärkte schließen. Wollen die Arbeitgeber das verhindern, müssen sie die Arbeitnehmer mit kräftigen Lohnerhöhungen angemessen am Kuchen teilhaben lassen.

Sonst ist es selbstverständlich, dass die Menschen sich wehren. Wenn es sein muss, auch mit Streiks.

 

Dieser Text erschien zunächst im "Profil" als Kommentar der Reihe "Cash&Clash".

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