Arbeitsminister Kocher will bis Ende Juni 2022 eine Reform der Arbeits- losenversicherung vorlegen. Statt tatsächlicher Verbesserungen dürften aber nur kosmetische Veränderungen als politischer Minimalkompromiss übrigbleiben. Wie müsste die Reform für arbeitslose Menschen aussehen, damit sie deren Existenz besser absichert, und gleichzeitig die Vermittlung des AMS zwischen Arbeitslosen und Unternehmen effektiver abläuft?
Was ist die Hauptaufgabe des Arbeitslosengeldes? Die Sicherung der Existenz für alle Menschen, die ihren Job verloren haben. Doch in Österreich versagt dieses Sicherheitsnetz noch zu häufig. Wer hierzulande arbeitslos wird, verliert von heute auf morgen rund 40 Prozent des Einkommens. Das ist mehr als anderswo. In vergleichbaren Ländern mit ähnlicher Wirtschaftsleistung und ausgebautem Sozialstaat verlieren arbeitslose Menschen zu Beginn weit weniger.
Neun von zehn arbeitslosen Menschen in Österreich erhalten netto weniger als EUR 1.200 monatlich, zwölf Mal im Jahr, zeigt eine Studie des SORA Instituts im Auftrag des Momentum Instituts. Das mittlere Arbeitslosengeld liegt laut AMS-Zahlen bei knapp EUR 1.000 im Monat. Damit liegt das Einkommen fast aller Arbeitslosen unter der Armutsgefährdungsgrenze für Ein-Personen-Haushalte von EUR 1.371. Jeder fünfte Kurzzeit-Arbeitslose ist armutsgefährdet, unter Langzeitarbeitslosen jeder zweite. Das sind aktuell über 67.000 Menschen im Land. Die aktuell rasante Teuerung verschlechtert ihre Kaufkraft weiter. Ein möglicher Wirtschaftseinbruch aufgrund des Krieges in der Ukraine oder steigender Energiepreise könnte ihre Chance zunichtemachen, wieder einen Job zu finden. Das eigentliche Ziel des Arbeitslosengeldes – der Grund, warum die Arbeitslosenversicherung ursprünglich eingeführt wurde – ist die Existenzsicherung. Dieses Ziel verfehlt das österreichische System der Arbeitslosenversicherung für zu viele Menschen.
Eine Lösung: Das Arbeitslosengeld nachhaltig erhöhen. Den Grundbetrag des Arbeitslosengeldes und der Notstandshilfe auf 70 Prozent des letzten Gehalts erhöhen. Für die durchschnittliche arbeitslose Person mit EUR 1.000 im Monat bringt das rund 275 Euro mehr. Kein Wundermittel, das alle Probleme löst. Aber ein deutlicher Schritt in Richtung Existenzsicherung.
Der Arbeitsminister hat das derzeitige Arbeitslosengeldmodell zur Debatte gestellt. Das Ziel ist eine Reform hin zu einem degressiven Modell. Die Theorie dahinter: Der steile Abstieg vom Erwerbseinkommen zum Arbeitslosengeld soll abgeschwächt werden, nach einer gewissen Dauer soll der Bezug im Vergleich zu bisher aber sinken. So werden arbeitslose Menschen eher gezwungen, jedes Arbeitsangebot anzunehmen – sei es noch so schlecht bezahlt, oder seien die Arbeitsbedingungen noch so mies. Das wahrscheinliche Ergebnis: Mehr Arbeitslose landen in prekären, schlecht bezahlten Jobs.
Ein degressives Arbeitslosengeld, das mit Dauer der Arbeitslosigkeit weniger auszahlt, zeigt in Studien kaum – und wenn nur sehr gering – den gewünschten Effekt, Arbeitslose schneller in Erwerbstätigkeit zu bringen. Länger arbeitslose Personen haben wenig Einkommen und kaum mehr Ersparnisse. Sie müssen daher ihren Konsum enorm einschränken, was ihre Lebensqualität stark beschneidet. Dazu kommt, dass Österreichs Arbeitsmarkt einen großen Anteil an temporär Arbeitslosen mit Einstellungszusage (rund 40 Prozent) hat. Das sind beim AMS „geparkte“ Arbeitskräfte, die, sobald ihre Saison wieder beginnt oder sich die Auftragslage bessert, wieder eingestellt werden. Der erwünschte Effekt nach einer schnelleren Arbeitsaufnahme durch ein degressives Arbeitslosengeld wird bei diesen Arbeitslosen kaum eintreten.
Auch eine zweiwöchige Wartefrist, wie öffentlich diskutiert, hat negative Konsequenzen für Arbeitslose, insbesondere für Kurzzeitarbeitslose. Sie würde bedeuten, dass Betroffene erst zwei Wochen nach Beginn der Arbeitslosigkeit Anspruch auf ein Arbeitslosengeld haben, dieses jedoch dann über dem heutigen Niveau von 55 Prozent liegt und danach wieder auf dieses abfällt. Würde man allen Arbeitslosen eine zweiwöchige Bezugssperre zu Beginn ihrer Arbeitslosigkeit verordnen, könnte man danach für rund zweieinhalb Monate eine höhere Nettoersatzrate von 65 Prozent des Letztgehalts finanzieren (derzeit 55 Prozent). Für Arbeitslose, die länger als drei Monate arbeitslos sind, ändert sich somit insgesamt nichts – sie bekommen im ersten Monat viel weniger, dafür im zweiten und dritten Monat etwas mehr. All jene, die kürzer als drei Monate arbeitslos sind, steigen durch die Bezugssperre allerdings schlechter aus, trotz höherem Arbeitslosengeld danach. Je kürzer die Arbeitslosigkeit, desto größer der Verlust.
Wie wäre ein „progressiverer“ Verlauf für Österreich umsetzbar? Die Bundesregierung könnte die Notstandshilfe, die das Arbeitslosengeld nach einem Jahr ersetzt, auf oder über die Höhe des Arbeitslosengeldes anheben. Das würde arbeitslosen Menschen auch erlauben, länger nach einem passenden Job zu suchen, ohne sich permanent mit Existenzängsten herumschlagen müssen.
Langzeitarbeitslose zählen zu den großen Verlierer:innen der Pandemie. Für sie war die Corona-Pandemie nicht nur gesundheitlich, sondern auch finanziell erst viel später nicht vorbei. Noch immer sind knapp 135.000 Menschen länger als ein Jahr arbeitslos, mehr als vor Corona. Während die Zahl der Arbeitslosen im April 2022 gegenüber April 2019 vor der Krise um 9,4 Prozent sank (ohne Kurzarbeit), stieg jene der Langzeitarbeitslosen seit Pandemiebeginn um 2,5 Prozent.
Ihre Chance auf einen Job sinkt mit der Dauer der Arbeitslosigkeit dramatisch. Ab acht Monaten drücken Unternehmen ihnen einen Stempel des Misstrauens auf. Zu Bewerbungsgesprächen werden sie nur mehr selten eingeladen. Bereits 16 Bewerbungen müssen sie im Schnitt schreiben, damit sie überhaupt zu einem Gespräch eingeladen werden.
Solange ein massiver, mehrere Jahre anhaltender Wirtschaftsaufschwung nicht sicher ist, braucht es auch öffentlich finanzierte Jobs für Menschen, denen private Unternehmen keine Chance mehr geben. Der Vorteil: Anstatt arbeitslose Menschen sich selbst zu überlassen, kann ihnen das AMS einen Job anbieten. Als österreichische Vorbilder dient die trotz großen Erfolges vorschnell abgebrochene Aktion 20.000 oder auch das erfolgreiche Pilotprojekt MAGMA des AMS Niederösterreich, das die Langzeitarbeitslosigkeit in der Gemeinde Marienthal/Gramatneusiedl abgeschafft hat.
Die Lösung: Ein dauerhaft finanzierter „zweiter“ Arbeitsmarkt. Zu Beginn sollte er alle Menschen umfassen, die schon länger als fünf Jahre auf Arbeitssuche sind oder die schon älter als 55 Jahre sind. Schritt- weise könnte er ausgebaut werden auf die notwendige Zahl an Stellen (zwischen 50.000 und 100.000).