Österreich hat einen Zugang, wenn es um Armut geht: nicht darüber reden. Österreich ist eine Klassengesellschaft, die aber so tut, als wäre sie keine. Die Zahlen sprechen aber deutlich zu uns: Das eine, reichste Prozent hockt auf mehr als der Hälfte des gesamten Privatvermögens. Also mehr als die ärmeren 90 Prozent der Bevölkerung zusammen haben. Die kleinsten Einkommen haben heute eine geringere Kaufkraft als vor 20 Jahren. In einem der reichsten Länder der Erde, gelingt es uns nicht, Kinderarmut abzuschaffen. 350.000 Kinder, und somit jedes 5. Kind, wächst in Österreich in Armut auf oder in der akuten Gefahr, morgen arm zu sein. Diese Kinder fahren (fast) nie auf Urlaub. Sie leben in Wohnungen, die nicht ausreichend geheizt werden. Sie kennen Toastbrot- und Reistage, weil für mehr reicht es am Ende des Monats nicht mehr. Das müsste eigentlich reichen, um zu sagen: genug. Tun wir was dagegen. Aber selbst für Menschen, denen die Herzensbildung fehlt und es unmöglich erscheint ihnen ein “Das darf nicht sein in einem so reichen Land” zu entlocken, selbst für diese Leute gibt es schlagende Argumente.
Das ‘Investment’ Kindergarten
Je früher man den Hebel ansetzt, desto besser wirkt er: Wer in eine arme Familie geboren wird, profitiert mehr als alle anderen von den Bildungseinrichtungen am Beginn des Lebens. Was die Familie selbst nicht schafft, kann der Kindergarten teilweise auffangen. Aber nur, wenn man ihn ausreichend finanziert. In der Sprache der Wirtschaft: Der ROI, der Return of Investment, ist beim Kindergarten am höchsten. Wenn wir für mehr Kindergärten, für längere Öffnungszeiten und bessere Betreuung sorgen, geht es auch den Eltern besser. Arbeitet eine Frau weniger – weil meist sie und selten er die Kinder betreuen muss –, verdient sie weniger, hat weniger Aufstiegschancen und am Ende eine mickrige Pension. Wer keine Kindergärten baut, schadet also armen Familien mehrfach und generationen-übergreifend. Und diesen Familien ist es egal, ob es aus egoistischen Motiven passiert, wie bei Sebastian Kurz. Für sie greift diese Politik direkt in ihr Leben ein: Österreich verpasst jedes Jahr das EU-Ziel zur Betreuung von Kleinkindern. Das Ergebnis: Jede dritte hiesige Teilzeitanstellung wird durch Betreuungspflichten ausgelöst; in Dänemark, mit hoher Kindergarten-Dichte, ist es gerade einmal jede fünfzigste. Wer einen qualitativ hochwertigen Kindergarten im Ort hat, ist mehr Stunden im Beruf. Wer mehr verdient, zahlt mehr Steuern. Kann sich mehr leisten, das freut auch die Wirtschaft.
Bildung ist auch der größte soziale Hebel: Wer besser ausgebildet ist, verdient besser, wird weniger krank und lebt bis zu 10 Jahre länger. Ebenso die Kinder. In Wohnungen mit schwerem Schimmelbefall bleibt ja nur, wer sich nichts anderes leisten kann. Die Bioprodukte aus dem Supermarkt sind für manche unerschwinglich. Geräte und Gebühren für den Sport sowieso. Und da reden wir von der körperlichen Gesundheit – dazu kommen die psychischen Belastungen. Arbeitslosigkeit ist ein Stressor, der drückt auch das Immunsystem. Wer arm aufwächst, ist kränker und fühlt sich auch kränker. In einer aktuellen Umfrage sagen die Hälfte der Ärzt:innen, dass Kinder aus armutsgefährdeten Familien häufiger zum Arzt gehen als andere. Eine deutliche Mehrheit sagt, armutsgefährdete Kinder fühlen sich weniger gesund und leistungsfähig. Fragt man Ärzt:innen, ob Kinder aus armutsgefährdeten Familien häufiger an chronischen Krankheiten leiden, antworten sechs von zehn eindeutig mit: ja. Was wir in die Bildung stecken, kriegen wir vielfach zurück: Gute Bildung macht gesünder, schützt vor Arbeitslosigkeit und spart somit Sozialausgaben. Aus gesamtwirtschaftlicher Sicht bekommt die Gesellschaft jeden Euro, den sie in die Kindergärten investiert, 8-mal zurück. Das ist ein top Investment, deutlich besser als das in die Unis. Für jeden Euro, den wir in Studierende stecken, kommen laut OECD zwei zurück. Gute Kindergärten, exzellente Pädagog:innen und ein toller Betreuungsschlüssel: Das sind die Werkzeuge, um den Armutskreislauf zu durchbrechen. Wo steht Österreich hier? Salopp gesagt: ganz hinten.
Der marode Zustand der Kinderbetreuung
Die Ausgaben für Kinderbetreuung haben sich seit 1980 zwar verdoppelt. In anderen Ländern sind sie aber wesentlich stärker gestiegen. Deutschland hat das Budget um das 4-fache gesteigert, Frankreich um das 5-fache und Italien und Belgien um das 7-fache. Wir geben 0,7 Prozent der Wirtschaftsleistung für Kinderbetreuung aus und liegen damit weit unter dem OECD-Durchschnitt von knapp 1 Prozent.
Diese Knausrigkeit schaut in der Realität so aus: fehlende Betreuungsplätze, zu kurze Öffnungszeiten und ein beschämend schlechter Betreuungsschlüssel. In Finnland betreut eine Fachkraft im Kindergarten sieben Kinder, in Dänemark betreut sie zehn. In Österreich? Eine Person umsorgt im Schnitt 24 Kinder. Daten des europäischen statistischen Amts zeigen: EU-weit stieg in den letzten zehn Jahren die Ganztagsbetreuungsquoten für 3- bis 5-Jährige um bis zu 38 Prozentpunkte. In Österreich waren es nur drei Prozentpunkte.
Was wir im Kindergarten verbocken, das machen wir in der Schule nicht wieder gut. Fast nirgends wird Bildung so stark vererbt wie bei uns. Wir zementieren den sozialen Status fest ein. Kinder aus armen Familien verdienen später kaum mehr als ihre Eltern. Um sich aus der untersten Einkommensgruppe in die Mitte vorzukämpfen, braucht es in Dänemark zwei Generationen. In Österreich fünf Generationen: 125 Jahre. Dabei wollen alle das Beste für ihr Kind. Für die einen bedeutet das, Babyschwimmen besuchen und musikalische Früherziehung buchen. Die anderen hängen nach der Schicht noch ein paar Stunden dran, fahren die Nachtschicht, gehen am Wochenende rein. Die Zulage ist wichtig, die Kinder brauchen Winterschuhe. Die sind jetzt dringender als die Hilfe bei der Hausübung. Unser Schulsystem ist dafür gebaut, dass alle bleiben, wo sie sind. Mit 10 Jahren entscheidet sich, wer es später an die Uni schafft – und wer nicht.
Armut als politisches Disziplinierungsinstrument
Armut in reichen Gesellschaften ist kein Hoppala, sondern Politikversagen. Das ist die Konsequenz einer Sozial-, Bildungs,- und Arbeitsmarktspolitik, die Kinderarmut nicht bekämpfen will. Wirksame Armutsbekämpfung ist institutionell, nicht individuell. Der „gute Tipp“ mit dem Burger vom Mäci holt niemanden aus der Armut.
Und die Hebel, um Kinder und ihre Familien aus der Armut zu holen, sind alle da. Aber wir drücken diese Hebel nicht und die Regierung hat das auch nicht vor. Vor 3 Jahren wurde die Europäische Garantie für Kinder von der Europäischen Kommission erarbeitet. Bis 2030 sollen alle EU-Staaten Kindern kostenlosen Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung garantieren, sowie eine gesunde Ernährung und einen angemessenen Wohnraum sicherstellen.
Zur Umsetzung erarbeiten alle EU-Staaten Nationale Aktionspläne gegen Kinderarmut. Alle, nur Österreich nicht. In drei Jahren ist nichts passiert. Nicht einmal ein Plan wurde vorgelegt. Aber wie kann es sein, dass Kinderarmut in einem reichen Land wie Österreich bewusst in Kauf genommen wird? Das ist kein Versehen, sondern Absicht. Kinderarmut geht Hand in Hand mit Armut. Arme Kinder haben immer auch arme Eltern. Eine Gesellschaft, die sich darin gefällt, alles einem vermeintlichen Leistungsprinzip unterzuordnen; die Individualismus und Wettbewerbsfähigkeit als Tugenden vor sich herträgt, schiebt Armen die Schuld für ihre Lage zu. Selbst schuld, wer sich am Markt nicht durchgesetzt hat. Mehr noch, Vollbeschäftigung und Abschaffung von Armut werden als Gefahr für den Wirtschaftsstandort angesehen. Weil dann könnten die ja noch Forderungen stellen!
Mit anderen Worten: Neoliberale sehen in Armut ein Disziplinierungsinstrument. Weil unsere Sozialsysteme nicht armutsfest sind, reicht die Angst vor Armut bis weit in die Mittelschicht. Und diese Disziplinierung durch Abstiegs- und Armutsangst funktioniert. Stellen wir uns vor, Menschen müssten bei schlechten Arbeitsbedingungen oder miesem Gehalt keine Angst vor Armut haben und könnten einfach sagen: Nein danke, unter diesen Bedingungen arbeite ich nicht. Deshalb dürfen wir, wenn wir Kinderarmut bekämpfen wollen, nicht von Armut und ihrer Funktion im Kapitalismus schweigen. Wenn wir dafür sorgen wollen, dass es keine armen Kinder mehr gibt – dann müssen wir die Armut als Ganzes besiegen. Die Mittel dazu, die hätten wir längst.
Dieser Text erschien zunächst in der Fachzeitschrift „Arbeit & Wirtschaft“