Leerer Teller als Symbolbild für die Aushungerung des Staates – Abschaffung Kalte Progression
/ 21. Mai 2022

Arbeit ist in Österreich zu hoch besteuert. Da sind sich alle einig – heimische Wirtschaftsforscher:innen, internationale Organisationen, Sozialpartner, politische Organisationen. Warum ist das so? Österreich hat einen ausgebauten Sozialstaat – ein öffentliches Gesundheitssystem, Pensionen, Schulen. Damit sichert das Land seine Bürger:innen gegen die finanziellen Tücken des Lebens ab. Klar ist aber: Qualität kostet. Weil Vermögende aber kaum etwas beitragen, bezahlen sich Arbeitnehmer:innen und Selbständige den Sozialstaat großteils selbst, mittels Abgaben auf Arbeit.

Was ist eigentlich die “kalte Progression”?

Ein Teil dieser Abgaben ist die Lohn- und Einkommensteuer. Ein noch kleinerer Teil davon stammt aus einem Phänomen namens „kalte Progression“. Das kommt politisch sehr groß heraus. Der Finanzminister kündigte an, sie abschaffen zu wollen. Was ist das überhaupt, die „kalte Progression“? Sie ist eine unangenehme Nebenwirkung einer ansonsten sinnvollen Regelung. Die „Progression“ der Lohn- und Einkommensteuer bedeutet nichts anderes, als dass Menschen mit höherem Gehalt auch höhere Steuersätze zahlen. Wer mehr zu Gemeinschaft beitragen kann, weil es ihm ohnehin gut geht, der soll das auch tun. Eine solidarische Finanzierung der staatlichen Dienstleistungen für die Menschen im Land ist so garantiert.

Wenn jemand also eine deutliche Gehaltserhöhung bekommt, kann es passieren, dass für einen Teil der Erhöhung ein höherer Steuersatz anfällt. Auch wenn die Kaufkraft der Menschen im Land stark steigt – wenn alle mehr verdienen – fällt ein Teil davon als zusätzliche Steuereinnahmen an. Dieser Teil nennt sich „reale“ oder „warme“ Progression. Sie ist beabsichtigt. Unbeabsichtigt ist hingegen die „kalte“ Progression: Steigen die Löhne nur deswegen, weil sie die Teuerung aufholen, dann gewinnen Arbeitnehmer:innen keine Kaufkraft. Trotzdem kann es passieren, dass ein kleiner Teil ihres Einkommens mit höheren Steuersätzen besteuert wird.

Die kalte Progression ist offensichtlich ungerecht. Regierungen geben sie gerne in inszenierten Steuerreformen an die Menschen zurück, indem sie die Steuersätze senken. Etwa alle vier Jahre jagt eine „größte Steuerreform aller Zeiten“ die nächste. Das funktioniert generell gut. Eine Ausnahme gibt es jedoch. In Zeiten, wenn der Finanzminister entscheidet, es ist Zeit zu sparen. Dann gab es keinen Ausgleich für die zu hohen Steuereinnahmen der arbeitenden Menschen. Um einen Kahlschlag im Sozialstaat zu verhindern, zieht der Finanzminister die Beschäftigten heran, die ihn während einer Krise aufrechterhalten.

“Starve the beast”

Auf den ersten Blick seltsam ist daher, warum ausgerechnet Konservative und Liberale sich am meisten über die geplante Abschaffung der kalten Progression freuen. Zum einen wohl, weil sehr gut Verdienende am meisten von der Abschaffung profitieren – und die wählen öfters rechts. Doch es gibt noch einen zweiten – strategischen – Grund. Der läuft unter dem Stichwort „Starve the beast“ – Lass den Staat verhungern. Das Schlagwort kommt aus den USA, unter dem neoliberalen Präsidenten Ronald Reagan. Der Sozialstaat war ihm ein Dorn im Auge, er wollte ihn so klein wie möglich halten. Die perfide Strategie: Zuerst die Steuern senken. Wohlwissend, dass sich damit kurze Zeit später ein künstlicher Aufschrei produzieren lässt: Im staatlichen Budget fehle Geld. Deswegen müsse man nun „sparen“, also Ausgaben kürzen. Wer den Staat in seiner verqueren Welt als „Biest“ sieht, der will ihn aushungern.

Gewissermaßen trifft das auch auf die kalte Progression zu. Ist sie erst weg, gibt es weniger Steuereinnahmen in schwierigen Zeiten. Konservative Parteien halten mit einer dogmatischen „Keine neuen Steuern“-Position das Land in Geiselhaft. Sie kürzen die Steuern für die Reichsten – ab 2023 die Steuern für die größten Konzerne mit den höchsten Gewinnen. Nun auch die kalte Progression. Zusammen bedeutet das: Will der Finanzminister das Budget irgendwann ausgleichen, muss er kürzen. Beim Sozialstaat. Eine häufige Forderung der Wirtschaftsliberalen: Alle sollen länger arbeiten, bevor sie in Pension gehen, bis 67 oder gar 70. Nur damit die Steuern niedrig bleiben und vor allem keine Vermögensteuern dazukommen. Ob dem Staat das Geld fehlt für die vielen älteren Menschen, die bald pflegebedürftig sind? Das lassen sie unter den Tisch fallen. Denn wer reich ist, der braucht den Sozialstaat nicht, kann sich private Pflege sowieso leisten. Alle anderen nicht.

Im Zweifel für den Sozialstaat

Kaum war die Absicht des Finanzministers bekannt, die kalte Progression abzuschaffen, forderten die ersten liberalen Ökonominnen bereits die Abschaffung der warmen Progression. Dabei ist die doch eine gute Sache. Wer tatsächlich mehr Kaufkraft bekommt, trägt einen Teil davon zur Gemeinschaft bei. Die kann im Parlament dann immer noch entscheiden, ob sie es wieder als Steuersenkung zurückgibt, oder den Sozialstaat ausbaut.

Die kalte Progression will grundsätzlich niemand. Sie ist aber so etwas wie das letzte Auffangnetz des Sozialstaates in schwierigen Zeiten. Ersetzen müsste man sie durch höhere Steuern auf Vermögen oder für Konzerne. Doch so lange es die nicht gibt – sie im Gegenteil sogar gesenkt werden – bleibt für Arbeitnehmer:innen und kleinen Selbstständigen nur die Wahl zwischen Pest und Cholera. Steuern zahlen, während sich die Reichen verweigern, oder den Sozialstaat zusammenstutzen. Eine ungute Wahl. Im Zweifel ist jedoch der Sozialstaat wichtiger. Denn ohne ihn gäbe es in Österreich mindestens 600.000 armutsgefährdete Menschen mehr.

 

Dieser Text erschien zunächst in der Momentum-Kolumne "Ausgerechnet" bei ZackZack.

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