Leistungsgerechtigkeit
/ 10. September 2019

„Leistung muss sich wieder lohnen“ ist ein vielgebrauchter politischer Slogan, der häufig im Kontext von „Fairness“ und „Gerechtigkeit“ verwendet wird. Doch was ist mit „Leistung“ eigentlich gemeint? Ist der gesellschaftliche Status einer Person wirklich das Resultat ihrer persönlichen Anstrengung? Und sind Armut und Arbeitslosigkeit im Umkehrschluss gleichbedeutend mit Leitungsunwilligkeit?

Was wissen wir?

Auf Leistung folgt Gerechtigkeit – so lautet das umstrittene Versprechen der klassischen Kapitalismusideologie. Man muss sich anstrengen, um etwas zu erreichen. Allerdings sind die Aufstiegsmöglichkeiten in vielen westlichen Demokratien längst nicht mehr so gut wie noch vor 30 Jahren. Armut und Reichtum verfestigten sich, Erwerbsarbeit wird zunehmend entwertet, die Chancen im Bildungssystem aufzusteigen sind für Kinder aus ökonomisch schwachen Familien gering. Während die strukturellen Bedingungen soziale Ungleichheit verfestigen, wird gleichzeitig die Verantwortung für den sozialen Status stark zum Individuum verlagert.

War die Arbeitslosenversicherung ehemals eine finanzielle Leistung für Versicherte für den Fall, dass ihre Arbeitskraft nicht eingesetzt werden kann oder nachgefragt wird, wird sie im öffentlichen Diskurs heute zu einem finanziellen Anreiz für Menschen mit geringer Erwerbsorientierung gemacht, die auf Kosten anderer leben wollen. Am skandalösesten ist es, wenn Bezieher*innen mehr herausbekommen, als sie eingezahlt haben. Dabei ist das genau das Prinzip einer solidarischen Umverteilung. Ansonsten könnte ja gleich jede*r für sich individuell vorsorgen. Statusunterschiede werden heute weniger graduell wahrgenommen, als vielmehr in den zwei Kategorien „die da oben“ und „die da unten“, „Leistungsträger*innen“ und „Leistungsverweigerer*innen“, „Gewinner*innen“ und „Verlierer*innen“, „Nützliche“ und „Nutzlose“. Die sozialen Grenzlinien sind kaum zu überschreiten, der Aufstieg nach oben immer schwieriger.

Die Logik des Markts dringt also auch in gesellschaftliche Sphären ein, die auf Basis des Solidaritätsprinzips entstanden sind. Neoliberale Kriterien dienen heute als allumfassende Grundlage der Bewertung von Personen, dazu zählen Effizienz, Verwertbarkeit, Funktionsfähigkeit, oder sichtbare Nützlichkeit für den volkswirtschaftlichen Erfolg. Doch welche Leistung lohnt sich eigentlich – und für wen?

Was wird diskutiert?

Talking Point

Kontext

„Leistung muss sich lohnen“

Leistung lohnt sich für viele Menschen in Österreich nicht. Erwerbsarbeit hat seinen armutsvermeidenden Charakter verloren und 316.000 Menschen gelten trotz Arbeit als arm (“Working Poor”). Versorgungsarbeit wie Hausarbeit, Erziehung, Betreuung oder Pflege - also jene Leistungen, die für eine funktionierende Wirtschaft und den Erhalt der Gesellschaft die Grundvoraussetzung bilden - ist unbezahlt. Das wirkt sich insbesondere nachteilig für Frauen aus, die nach wie vor den Großteil der wenig sichtbaren „Care-Arbeit“ übernehmen. Die Gesamtarbeitszeit von Frauen, die Teilzeit arbeiten, ist teilweise höher als jene von ihren Partnern, die Vollzeit arbeiten. Und das hat langfristig verheerende Auswirkungen. Frauen, die ihr Leben lang auf der Haushalts- und Familienebene sehr viel geleistet haben, weisen mitunter eine höhere Armutsgefährdung und niedrigere Pensionen auf.

„Arbeitslose sind leistungsunwillig“

In manchen Fällen ist Arbeitslosigkeit tatsächlich freiwillig und liegt an fehlendem Interesse oder der persönlichen Entscheidung für eine berufliche Auszeit. Aber neben solchen subjektiven Motiven gibt es eine Vielzahl an weiteren möglichen Gründen, warum man gerade keinen Job hat. Das Scheitern bei der Realisierung von beruflichen Zielen ist von verschiedenen Faktoren abhängig und beeinflusst, die zum Teil miteinander verstrickt sind und sich wechselseitig verstärken, wie z.B.

  • wirtschaftlich krisenhafte Entwicklungen und bestimmte Reaktionen des Staates darauf

  • Technologisierung und Automation (z.B. wenn menschliche Arbeitskraft durch Computer, Maschinen oder Roboter kostengünstiger ersetzt wird),

  • die Auslagerung von Arbeit in sogenannte „Billiglohnländer“,

  • fehlende soziale Unterstützung,

  • persönliche Schicksalsschläge,

  • die soziale Herkunft (z.B. wenn man in einer Familie aufgewachsen ist, in der Arbeitslosigkeit eher die Norm ist, als die Ausnahme),

  • Diskriminierung (z.B. wenn soziale Vorurteile gegenüber Älteren, Frauen, körperlich Beeinträchtigten, ausländischen Arbeitnehmer*innen, Vorbestraften oder Langzeitarbeitslosen bestehen),

  • mangelnde Infrastruktur (z.B. wenn große Unternehmen in der Region zugesperrt haben),

  • größere Konkurrenz am Arbeitsmarkt (z.B. wenn eine selbstständige Kosmetikerin in der österreichischen Grenzregion aufgrund der günstigeren Dienstleistungsangebote in Ungarn Kundinnen aus Österreich verliert),

  • fehlende Chancen persönlicher Entwicklung

  • und vieles mehr.

Insgesamt gilt es festzuhalten: Inwiefern Arbeitslosigkeit in Österreich freiwillig oder unfreiwillig ist, kann aufgrund einer mangelnden Datenlage nicht festgestellt werden.

„Die eigene Position in der Gesellschaft definiert sich über die Leistung“   

Der dominierende Diskurs möchte uns glaubhaft machen, dass jedes Mitglied der Gesellschaft seine “verdiente” wirtschaftliche Position annimmt. Dementsprechend wird das Thema Arbeitslosigkeit immer stärker zu einer moralischen Wertigkeitsprüfung. Auf der emotionalen Ebene lässt sich mit derartigen Bildern relativ einfach Empörung über mutmaßlich Schuldige hervorrufen. Und diese scharf gezogene moralische Grenzlinie setzt Prozesse der Entsolidarisierung in Gang. Dabei wird außer Acht gelassen, dass die soziale Herkunft eine große Rolle in der Statusverteilung spielt, denn Armut und Vermögen werden in Österreich innerhalb der Familie weitervererbt.

„Es gilt das Prinzip: Gleiche Bezahlung für gleiche Leistung“   

In Österreich wird dieses Prinzip nicht durchgängig angewandt. So werden Preise von Frisierdienstleistungen, die den gleichen Zeitaufwand und Schwierigkeitsgrad erfordern (z.B. Kurzhaarschnitt), je nach Geschlecht unterschiedlich angesetzt („Gender Pricing“). Zudem berechnet sich für bestimmte berufliche Tätigkeiten das Gehalt von Mitarbeiter*innen nicht primär nach Arbeitsleistung, sondern nach Verhandlungsgeschick.

„Höhere Verantwortung und Belastung wird höher entlohnt“

Hoch entlohnt werden insbesondere gewinnbringende Tätigkeiten. Und dieses Prinzip sollte gesamtgesellschaftlich hinterfragt werden. Denn: Warum bekommt eine Kindergartenpädagogin, die die wichtige Aufgabe erfüllt, Kinder gemeinschaftlich zu einem integralen Teil der Gesellschaft zu erziehen, dabei täglich einem hohen Lärmpegel ausgesetzt ist und physische und mentale Anstrengungen in Kauf nimmt, nur ein Drittel des Gehalts eines "SAP-Beraters", der technische Standard-Unterstützung für den Einsatz von Standardsoftwaremodulen in Unternehmen und Verwaltung erbringt? Welche Wertehaltungen stecken hinter der unterschiedlichen finanziellen Bewertung von Tätigkeiten und inwieweit ist das gesellschaftlich zuträglich? Eine grundlegende Diskussion zu diesem Thema wäre zielführend.

 

Leseempfehlung:


Verheyen, Nina (2018): Die Erfindung der Leistung. München: Hanser.
Hartmann, Michael  (2013): Soziale Ungleichheit - Kein Thema für die Eliten? Frankfurt/Main: Campus.
Wiesböck, Laura (2018): Armut und Vermögen. In: In besserer Gesellschaft. Der selbstgerechte Blick auf die Anderen (84-98). Wien: Kremayr & Scheriau.


Quellen:

Cingano, Federico (2015): Income Inequality, Social Mobility and Economic Growth. Paris: OECD Publishing. Link:  https://www.oecd.org/eco/growth/NERO-22-June-2015-income-inequality-social-mobility-and-economic-growth.pdf
Statistik Austria (2019): "Working Poor" nach Eurostat-Definition 2008 bis 2018. Link: https://www.statistik.at/web_de/statistiken/menschen_und_gesellschaft/soziales/armut_und_soziale_eingliederung/080919.html
Schönpflug, Karin / Eberhardt, Viktoria (2019): Gender Pricing. Ein Baustein in der Betrachtung von geschlechtsspezifischer Ungleichheit. Wien: IHS. Link: https://irihs.ihs.ac.at/id/eprint/5146/1/ihs-report-2019-schoenpflug-eberhardt-gender-pricing.pdf
Piketty, Thomas (2014): Das Kapital im 21. Jahrhundert. München: C.H. Beck

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