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Pflege: Ist die Entlastung pflegender Angehöriger genug?

Redaktion
10. September 2019
Pflege: Ist die Entlastung pflegender Angehöriger genug?

Gastbeitrag von Andrea E. Schmidt, Ökonomin, Wien

Von politischer Seite ist dieser Tage vielfach zu hören, dass pflegende Angehörige entlastet werden sollen. Dies ist insofern grundsätzlich unterstützenswert als in Österreich geschätzt eine Million Menschen regelmäßig pflegebedürftige An- und Zugehörige versorgt. Zu beachten ist: Auch wenn Angehörige entlastet werden, darf der Staat nicht aus der öffentlichen Verantwortung genommen werden. Die Bereitstellung und öffentliche Finanzierung eines flächendeckenden Angebots an professionellen Betreuungsdienstleistungen ist unumgänglich.

Was wissen wir?

Es wird suggeriert, dass die Unterstützung bzw. Entlastung von pflegenden Angehörigen der eierlegenden Wollmilchsau in der Pflegefinanzierungsdebatte gleicht. Zugleich wird die Verantwortung für Pflege und Betreuung noch stärker auf Familien übertragen, als dies ohnehin bereits der Fall ist. Entlastungsangebote, die im letzten Regierungsprogramm (2017-2019) genannt wurden, sind etwa ein One-Stop-Shop für Förderungen, psychologische Unterstützung, oder Sozialrechtsberatung. Der Ausbau von professionellen Pflege- und Betreuungsdienstleistungen, der hierzulande im internationalen Vergleich ohnehin eher niedrig ist (siehe Abbildung 1), wird hingegen in diesem Zusammenhang weniger häufig thematisiert.

 

Pflege Hausstattion

Abbildung 1: Bevölkerungsanteil mit professioneller Pflege und Betreuung in Europa. Betreute Personen in % der Bevölkerung, 2016

Was sind nun die Vorteile einer Entlastung von pflegenden und betreuenden Angehörigen – insbesondere aus Sicht jener, die die Verantwortung für Pflege und Betreuung künftig weiterhin vor allem innerhalb der Familie sehen?

    – Pflegende Angehörige können weiter ihrem Beruf nachgehen. Sie stehen damit dem Arbeitsmarkt trotz der (größtenteils unbezahlten) Pflege- und Betreuungsarbeit für Familienmitglieder weiterhin zur Verfügung. Laut Daten der Universität Wien sind sieben von zehn pflegenden Angehörigen weiblich (Abbildung 2). Die Altersgruppe der 51- bis 60-Jährigen ist in Österreich am stärksten engagiert.
    – Es ist davon auszugehen, dass die Maßnahmen zur Entlastung von Angehörigen (z.B. Beratungsangebote, Kurzzeitpflege) für die öffentliche Hand tendenziell weniger hohe Kosten verursachen als der umfassende und flächendeckende Ausbau von professionellen häuslichen Betreuungs- und Pflegedienstleistungen.
    – Zudem entspricht der Wunsch nach einem Verbleib in den eigenen vier Wänden dem Wunsch des Großteils der älteren pflegebedürftigen Menschen.

Pflege Männer Frauen Anteil

Abbildung 2: Frauenanteil in der häuslichen Pflege

Doch ist Vorsicht geboten. Österreich ist bereits jetzt im internationalen Vergleich ein Land, wo insbesondere Töchter, Schwiegertöchter und Partnerinnen sehr viel an Betreuungsarbeit für pflegebedürftige Angehörige schultern. Anfangs sind dies oft kleinere Hilfestellungen im Alltag, die selbstverständlich und gern erbracht werden. Vielfach wird aus kleineren Alltagshilfen mit der Zeit ein intensiver Betreuungsbedarf, der Angehörige mitunter überfordert. Wie aus mehreren Studien bekannt, kann intensive familiäre Pflege und Betreuung negative Konsequenzen für Erwerbsarbeit, Psyche und körperliche Gesundheit nach sich ziehen.

In der öffentlichen Diskussion liegt der Fokus oft darauf, Angehörige zu entlasten, ohne zu berücksichtigen, dass auch ein öffentlicher Ausbau von Pflege- und Betreuungsdienstleistungen notwendig ist, um diese Entlastung letztendlich sicherzustellen. Speziell zwei Punkte werden in der Debatte oftmals ausgeblendet:

    – Pflegende Angehörige leiden häufiger an psychischen Erkrankungen als der Rest der Bevölkerung (Abbildung 3).[1] Jene Angehörigen, die intensiven Betreuungsbedarf im Ausmaß von 20 Stunden pro Woche oder mehr leisten, sind besonders gefährdet, von psychischen Beeinträchtigungen betroffen zu sein, wie eine Analyse der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zeigt. Eine bundesweite Erhebung der Universität Wien zeigt, dass rund ein Drittel (31%) der pflegenden Angehörigen in Österreich von psychischen Belastungen betroffen ist.
    – Die Intensität der familiären Betreuung, und die damit einhergehende psychische Belastung für Angehörige, wird mit dem Ausbau professioneller Pflege- und Betreuungsdienstleistungen reduziert (Abbildung 3). Dies bedeutet nicht, dass Pflege und Betreuung durch Angehörige ersetzt wird. Bei intensivem Betreuungsbedarf ist das Gegenteil der Fall: Empirische Studien zeigen, dass familiäre Betreuung in diesen Fällen zusammen mit professionellen Dienstleistungen in Anspruch genommen wird.

Pflege psychische Erkrankungen

Abbildung 3: Anteil an Personen mit psychischen Probleme in der jeweiligen Altersgruppe 50+

 Was wird diskutiert?

Häufig vorgebrachtes Argument

Faktencheck

Die Entlastung von pflegenden Angehörigen kann substanziell zur Lösung der Frage der künftigen Pflegeversorgung und ‑finanzierung beitragen.

Die Entlastung von pflegenden Angehörigen setzt voraus, dass auch leistbare öffentliche professionelle Pflege- und Betreuungsdienstleistungen vorhanden sind.

Betreuung im eigenen Zuhause entspricht dem Wunsch der meisten Pflegebedürftigen.

Intensive Betreuungsarbeit durch Angehörige erhöht das Risiko von Angehörigen, an psychischen Erkrankungen zu leiden. Auch Erwerbsarbeit und körperliche Gesundheit von pflegenden Angehörigen können leiden, was Altersarmut und später Pflegebedürftigkeit nach sich ziehen kann.

 
Link- und Leseempfehlungen:

Spasova, S., Baeten, R. & Vanhercke, B. (2018) Challenges in long-term care in Europe, Eurohealth, 24(4), p. 7-12. Verfügbar unter: http://www.euro.who.int/__data/assets/pdf_file/0005/391406/_EuroHealth_v24n4_Web_09.Jan.2019.pdf?ua=1

Rodrigues, R., Schulmann, K., Schmidt, A.E. et al. (2013) The indirect costs of informal care,  Research Note 8/2013, Social Situation Monitor, Europäische Kommission, Brüssel. Verfügbar unter: https://ec.europa.eu/social/BlobServlet?docId=11780&langId=en (besucht am 4. September 2019).

Colombo et al. (2011): Help wanted? Providing and paying for Long-term Care. OECD: Paris. Verfügbar unter: https://read.oecd-ilibrary.org/social-issues-migration-health/help-wanted_9789264097759-en#page1 (besucht am 4. September 2019).

Nagel, R. (2019) Handlungsbedarf: Pflegereform in Österreich, A & W Blog, 5. Juli 2019, verfügbar unter: https://awblog.at/handlungsbedarf-pflegereform/ (besucht am 8. September 2019).

Weitere Quellen:

Bonsang, E. (2009) Does informal care from children to their elderly parents substitute for formal care in Europe? Journal of Health Economics, doi: 10.1016/j.jhealeco.2008.09.002.

European Commission (2017) Health and long-term care in the European Union, Special Eurobarometer 283, TNS Opinion & Social. Verfügbar unter: https://ec.europa.eu/commfrontoffice/publicopinion/archives/ebs/ebs_283_en.pdf (besucht am 4. September 2019).

Famira-Mühlberger, U. & Firgo, M. (2018) Aktuelle und künftige Versorgungsfunktion der mobilen Pflege- und Betreuungsdienste in Österreich. Institut für Wirtschaftsforschung: Wien. Verfügbar unter: https://www.wifo.ac.at/jart/prj3/wifo/resources/person_dokument/person_dokument.jart?publikationsid=61563&mime_type=application/pdf (besucht am 4. September 2019).

Nagl-Cupal, M., Kolland, F., Zartler, U., Mayer, H., Bittner, M., Koller, M., Parisot, V., Stöhr, D., Bundesministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz (Hg.) (2018): Angehörigenpflege in Österreich. Einsicht in die Situation pflegender Angehöriger und in die Entwicklung informeller Pflegenetzwerke. Universität Wien.


[1] Die dargestellten Berechnungen für Österreich basieren auf den Daten der Survey on Health, Ageing and Retirement (www.share-project.org). Als pflegende Angehörige werden in Abbildung 1 Personen erfasst, die im eigenen Haushalt oder außerhalb Familienmitglieder, Freundinnen und Freunde oder Nachbarinnen und Nachbarn betreuen oder pflegen. Bei der Definition von pflegenden Angehörigen, die intensive Betreuungsleistungen erbringen, wurden aus datentechnischen Gründen nur Personen berücksichtigt, die nicht mit der pflegebedürftigen Person im gleichen Haushalt wohnen.

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