Die österreichische Nationalbank hat sich auf die Suche nach dem “kleinen Häuslbauer” gemacht. Und herausgefunden: Es gibt ihn nicht. Dennoch wird Politik für ihn gemacht.
Fast 100 Jahre ist es her, dass das Ehepaar Thomas das nach ihnen benannte “Thomas-Theorem” formuliert hat – eine Grundannahme der Soziologie: Wenn Menschen Situationen als wirklich definieren – dann sind diese in ihren Konsequenzen “wirklich”. Soll heißen: Wenn wir ganz fest an etwas glauben, dann verhalten wir uns entsprechend – egal ob das, woran wir glauben, überhaupt existiert.
Die österreichische Politik hält “den kleinen Häuslbauer” für die Mitte der Gesellschaft – und handelt dementsprechend. Hinzu kommt, wie Studien zeigen: Wer wenig besitzt, schätzt sich gern reicher, als er wirklich ist. Die oberen 10 Prozent schätzen sich selbst knapp oberhalb der Mitte ein, also deutlich ärmer, als sie in Wirklichkeit sind.
Und wenn alle so gern in die Mitte wollen – dann ist es nur logisch, dass die Politik ihren Kompass danach ausrichtet. Der “kleine Häuslbauer” ist ihr Polarstern. Das Problem: Es gibt ihn gar nicht. Die Nationalbank hat im Auftrag des Sozialministers nach ihm gesucht, die Studie wurde eben veröffentlicht.
Das Eigentum an Wohnraum ist die Trennwand zwischen oben und unten: Wer mietet, hat durchschnittlich 57.000 Euro Vermögen. Wer im Eigentum wohnt, hat im Schnitt achtmal so viel: 463.000 Euro. Beim Vermögen gibt es statt einer Mitte drei Gruppen: Erstens, die ärmere Hälfte der Bevölkerung. Die wohnt zur Miete und hat allenfalls einen Notgroschen am Sparbuch.
Die nächsten 40 Prozent sind die zweite Gruppe. Die hat Ersparnisse und wohnt im Eigentum. Interessant wird es bei der dritten Gruppe: den oberen zehn Prozent. Die haben Aktien, Unternehmen und Immobilien. Sie wohnen nicht nur im Eigentum, sie vermieten auch Wohnraum: Die besitzlose Hälfte des Landes überweist ein Drittel bis ein Viertel ihres monatlichen Einkommens an die reichsten Haushalte. Eine gigantische Umverteilung von unten nach oben. Monat für Monat.
Fragt man die Leute übrigens, wie es sein sollte, sagen sie: 30 Prozent des Vermögens sollte der ärmeren Hälfte gehören. Davon sind wir weit entfernt: Die ärmere Hälfte der Bevölkerung besitzt nur 4,6 Prozent des Vermögens.
Doch wenn die Politik den “kleinen Häuslbauer” als wirklich definiert, dann ist er in seinen Konsequenzen wirklich. Konsequenz Nummer eins: Er ist der wichtigste Strohmann der konservativen Parteien, wenn es darum geht, faire Grund-, Erbschafts- und Vermögensbesteuerung zu blockieren. Konsequenz Nummer zwei: Was uns als Politik für die Mitte verkauft wird, ist oft Politik für die Reichsten. Die Nationalbank analysiert es so: “Weil der ‚kleine Häuslbauer‘ in Österreich fälschlicherweise als ‚die Mitte‘ der Gesellschaft angesehen wird, obwohl er sich in der oberen Mitte befindet, verführt dies in der wirtschaftspolitischen Debatte dazu, von breiten Gemeinsamkeiten in der Mitte auszugehen.”
Von “breiten Gemeinsamkeiten” kann nicht ausgegangen werden. Wer Eigentum besitzt, verschuldet sich deutlich günstiger. Ein Kredit, der mit einer Immobilie besichert werden kann, ist im Schnitt mit bis zu 6 Prozent verzinst. Wer nichts hat, kann auch nichts besichern. Der Kredit ist teurer, für ein überzogenes Konto oder die Ratenzahlung der Kreditkarte müssen Zinsen zwischen 10 und 25 Prozent bezahlt werden. Geld ausborgen ist für jene, die keines haben, am teuersten.
Anderes Beispiel: Die Mieten sind in Österreich an die Inflation gekoppelt, deshalb mit den Preisen explodiert. Mit einem Mietendeckel hätte man die Sache einfach lösen können; gesetzlich, ohne einen Cent Steuergeld – andere Länder haben es genau so gemacht. Die Regierung in Österreich hat stattdessen Menschen mit Mietschulden mit Millionen Steuergeld unterstützt. Aber die mussten das Geld ja direkt an ihre Vermieter weiter überweisen. Das heißt: Wir haben mittelbar Millionen an Steuergeld an die reichsten zehn Prozent des Landes gepumpt. Das ist Politik für Immobilienbesitzer.
Die zahlen wir alle – genauso wie den Kanalzugang zum Einfamilienhaus oder die neue U-Bahn-Station in der City. Es sind Investitionen der öffentlichen Hand, die Immobilien noch wertvoller machen. Von der Wertsteigerung der Immobilie hat nur der Eigentümer allein etwas. Auch klimapolitisch ist die Liebe zum Häuslbauer schwieriges Terrain. Zwischen 1990 und 2020 ist die Zahl der Einwohner:innen in Österreich um 14 Prozent gewachsen. Die fürs Wohnen verbaute Fläche ist aber doppelt so stark gewachsen; Autos haben wir seit 1990 sogar viermal so viele. Klar, irgendwie muss der kleine Häuslbauer ja zu seinem kleinen Häusl kommen.
Wenn die Politik für die Mitte arbeiten will, dann müsste sie jene stärker in den Blick nehmen, die kein Eigentum haben. Sich um Mietobergrenzen kümmern, um Mindeststandards für Wohnqualität, Mieter:innenrechte und um den Leerstand in Österreich. Um thermische Sanierung, damit die Heizkosten sinken und vor allem leistbaren Wohnraum bauen.
Finanzieren ließe sich das mit einer höheren Steuer auf Grund und Boden, auf Erbschaften und auf Vermögen. 90 Prozent der Bevölkerung finden, faire Vermögenssteuern wären die dringendste steuerliche Maßnahme. Im Gegensatz zum Fabelwesen “kleiner Häuslbauer” ist diese Stimmung echt.
Dieser Text erschien zunächst als Gastkommentar in der Tageszeitung Der Standard.