Der verzweifelte Widerstand von Klimaschützerinnen und Klimaschützern gegen den Braunkohletagebau bei Lützerath hat rechtsliberale Politiker und Vertreter der Industrie empört. Die hätten ja keine Ahnung von Klimapolitik und würden die Ziele des Klimaschutzes sogar noch konterkarieren. Die wahren Klimaschützer seien hingegen die Erfinder des EU-Emissionshandels, kommentierte Jan Kluge von der industrienahen Denkfabrik Agenda Austria jüngst in einem Gastkommentar.
Nur: Das europäische Emissionshandelssystem (ETS) greift hinten und vorn viel zu kurz. Daran ändern auch die geplanten Reformen wenig. Es beginnt schon bei der Zielsetzung: Schon die geplanten Einsparungen durch den Handel mit Emissionen sind deutlich zu gering veranschlagt. Das ETS entspricht noch nicht einmal dem Ziel des Pariser Klimaabkommens, die Erderhitzung auf 1,5 Grad zu begrenzen. Dafür werden viel zu viele Zertifikate vergeben. Noch ein ganzes Jahrzehnt lang dürfen sogar Gratiszertifikate an Industrieunternehmen verteilt werden. Für sie bleibt ihre Luftverschmutzung damit gratis und frei von Konsequenzen.
Dabei sind 60 Prozent aller Emissionen in Europa noch gar nicht dem Emissionshandel unterworfen. Ursprünglich für 2026 vorgesehen, kommt der Emissionshandel für den Verkehrs- und Gebäudesektor nun frühestens 2027. Damit es dann ja nicht zu flott vorangeht mit dem Klimaschutz, ist der CO2-Preis für die ersten Jahre auf 45 Euro pro Tonne gedeckelt. Pro Liter Diesel beziehungsweise Benzin zahlt man europaweit dann zwischen neun und elf Cent CO2-Steuer. In dieser Höhe wird der Preis keinen Lenkungseffekt entfalten. Nur wenn er so hoch angesetzt wird, dass man sein Auto wirklich stehen lassen muss, könnte der Emissionshandel dazu beitragen, dass wir weniger CO2 ausstoßen.
So gilt das Gesetz des finanziell Stärkeren. Wer es sich leisten kann, der darf weiterhin das Klima verpesten und damit uns allen schaden. Wer es sich nicht leisten kann, der muss andere Wege finden. Blöd nur, dass die meisten Wege leider Autobahnen sind und nicht für Fahrräder oder gar öffentliche Verkehrsmittel gebaut wurden. Diese Fehlplanung macht aktuell einen klimapolitisch wirkungsvollen CO2-Preis in angemessener Höhe politisch so schwer durchsetzbar.
Das Resultat: Wir sind Lichtjahre davon entfernt, die Erderhitzung angemessen einzubremsen. Um sie auf 1,5 Grad zu begrenzen, dürfte jedes Land nur mehr eine bestimmte (und geringe) Menge an Treibhausgasen ausstoßen. Mit Stand heute bleiben Österreich noch rund 210 Millionen Tonnen übrig. Jährlich emittieren wir 70 Millionen Tonnen, unser Treibhausgasbudget ist also bereits in drei Jahren aufgebraucht.
Wer sich angesichts dieser Zahlen auf dem laschen europäischen Emissionshandel ausruht, hat den Alarm nicht gehört. Es sind die Klimaaktivistinnen und Klimaaktivisten weltweit, die Druck auf Regierungen machen und das Thema in die Öffentlichkeit schieben. Lässt der Druck nach, tut sich klimapolitisch gar nichts mehr. Schon bisher lässt die österreichische Bundesregierung – trotz grüner Regierungsbeteiligung – politischen Mut in Klimafragen vermissen. Wirksame Maßnahmen, die einfach, kostenneutral und sofort umgesetzt werden können – etwa Tempo 100 auf der Autobahn –, werden mit Blick auf kommende Wahltermine nicht angeschoben. Den Oppositionsparteien scheint das gerade recht zu sein.
Dass wir die Treibhausgasemissionen so schnell wie möglich reduzieren müssen, steht außer Zweifel. Als Gesellschaft können wir uns aber ausmachen, wie wir das verbleibende Treibhausgasbudget verteilen. Die Nachlässigkeit beim europäischen Emissionshandel bedeutet, dass wir die Industrie aus der Verantwortung lassen und den Treibhausgasausstoß woanders umso stärker reduzieren müssen. Wenn wir den größten Verursachern der Klimakrise, wie RWE mit seinem Braunkohletagebau bei Lützerath, nicht Grenzen setzen, dann müssen wir Gas- und Ölheizungen umso schneller tauschen. Klimapolitik ist immer auch eine Verteilungsfrage. Wer Aktivistinnen und Aktivisten an den Pranger stellt, zeigt, auf welcher Seite er in dieser Frage steht.
Der Text erschien zunächst als Gastkommentar in der Tageszeitung „Der Standard“.