Ja, dürfen die denn das? Die Eisenbahner den Zugverkehr lahmlegen? Krankenpfleger und Ärzte die Ordensspitälern auf Notdienst hinunterfahren? Die Angestellten im Handel einen ganzen Einkaufstag vor Weihnachten ausfallen lassen?
Die kurze Antwort: Selbstverständlich. Das Recht seine Arbeit niederzulegen ist ein Menschenrecht. In Österreich wird das Streikrecht zwar selten ausgeübt. Aber heuer ist es nicht überraschend. Ganze neun Mal ist in den letzten 25 Jahren die Kaufkraft der Löhne gefallen. Nie war der Verlust so groß wie dieses Jahr: Die Preiserhöhungen der Unternehmen fressen den Arbeitnehmern vier Prozent ihrer realen Löhne weg.
Als Gehalts-Ausgleich wollen die Arbeitgeber 2023 auf Einmalzahlungen setzen. Für sie aus gutem Grund: Das wäre deutlich billiger. Steigt der Grundlohn, bleibt er das ganze Berufsleben höher. Er bestimmt, wo die Lohnverhandlungen nächstes Jahr beginnen. Eine Einmalzahlung verpufft hingegen nach einem Jahr. Akzeptiert eine Eisenbahnerin mit 2.000 Euro Monatsgehalt eine Einmal-Zahlung von 1.000 Euro, fällt sie im nächsten Jahr um diese 3,6% wieder zurück. Und der Verlust bleibt für das restliche Berufsleben. Nach einem Jahr ergibt das keinen Unterschied. Über Jahrzehnte fehlen ihr Zehntausende Euro, die dem Unternehmen bleiben.
Bis vor kurzem hätten die Arbeitnehmer da vielleicht trotzdem mitgemacht. Zu groß war der Druck durch globalisierten Wettbewerb, wirtschaftsliberale Budget- und Geldpolitik, und vor allem stetig steigende Arbeitslosigkeit. Entsprechend niedrig fiel die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften aus. Die Unternehmen waren nicht solidarisch. Der Anteil der Löhne am erwirtschafteten Einkommen befindet sich seit den 80ern im Sinkflug.
Nun hat sich der Wind gedreht: 40 Jahre Umverteilung nach oben könnten enden. Nach Corona ging es wirtschaftlich steil nach oben. Die Arbeitslosigkeit liegt so niedrig wie seit zehn Jahren nicht, offene Stellen gibt es so viele wie seit 30 Jahren nicht. Plötzlich haben die Arbeitnehmer Verhandlungsmacht.
Wegen der Rekordteuerung brauchen sie diese auch. Gering- bis Durchschnittsverdiener können sich Rücksicht auf sinkende Unternehmensgewinne schlicht nicht leisten. Unter diesen Vorzeichen sind alle Arbeitnehmer gut beraten, auf kräftige Lohnerhöhungen zu bestehen. Und das gilt besonders wenn Arbeitnehmer gut organisiert sind.
Dass die starken Eisenbahner mit einer hohen Forderung vorpreschen – und nicht etwa Frisöre, von denen nur neun Prozent Gewerkschaftsmitglieder sind – legt die Latte für andere höher. Das Gute daran: Zieht eine kräftige Gewerkschaft die Löhne auch mit dem Streikhebel solidarisch nach oben, nimmt sie schlechter Bezahlte ein bisschen mit. Je knapper das Personal, je mehr Konkurrenz um Arbeitskräfte, desto stärker wachsen die Löhne anderer Branchen. Auch die Frisörin wird – wenn auch verspätet – mehr verdienen.
Die Forderung der Eisenbahner nach 400 Euro Lohnerhöhung für alle Beschäftigten ist klug durchdacht. Sie erhöht untere und mittlere Einkommen prozentuell stärker als obere. Diese „Lohnkompression“ hilft dagegen, dass jene Beschäftigten, die in schlechter bezahlten Bereichen arbeiten, diese in Scharen verlassen.
Die Bahn braucht eben auch ausreichend Zugbegleiter oder Reinigungspersonal: Wer die weiter haben will, muss sich in diesen Bereichen an Lohnabschlüsse gewöhnen, die deutlich über der Inflationsrate liegen.
In sozialpartnerschaftlicher Tradition hätte man sich auf kräftige Lohnerhöhungen schon einigen können. Dazu müssten die Arbeitgeber aber anerkennen, dass sich der Wind gedreht hat: Wer Fachkräftemangel schreit, der darf bei Löhnen nicht knausern. Auch wenn das heißt, auf einen Teil der Gewinne und exzessive Managergehälter zu verzichten, damit Beschäftigte mehr Lohn erhalten. Das wäre tatsächlich eine Zeitenwende.
Dieser Text erschien zunächst als Gastkommentar in der Tageszeitung „Der Standard“.