Hände übereinander_Sozialstaat macht alle reicher
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  Anna Hehenberger
/ 16. August 2021

Alle Jahre wieder rufen liberale Politiker und Denkfabriken den Tag der Steuerfreiheit aus. Sie zelebrieren den Zeitpunkt, ab dem sie sich nicht mehr an der Finanzierung des Gemeinwesens beteiligen müssen. Der Chef der deutschen Liberalen, Christian Lindner, schlug unlängst Alarm, weil ein Drittel der Wirtschaftsleistung Deutschlands mittels staatlicher Haushalte in Soziales fließt. Kaum macht die Pandemie Pause, beginnt auch in Österreich eine Diskussion, wie man die größte soziale Versicherungsleistung, die Pensionen, um Milliarden kürzen kann. All das ist besorgniserregend, denn der Sozialstaat wirken nicht nur in Krisenzeiten Wunder.

Der Sozialstaat wirkt individuell und gesamtgesellschaftlich

Österreichische Sozialleistungen schützten jährlich zumindest 600.000 Erwachsene vor Armut – das sind mehr Menschen als in Kärnten leben. Ohne Arbeitslosengeld, Familienbeihilfe, Krankenversicherung und Co. würde ein Viertel der Menschen in Österreich in Armut leben. Das bedeutet für einen Erwachsenen, mit weniger als EUR 1.328 pro Monat auszukommen (12 mal im Jahr). Es liegt auf der Hand, dass man damit nicht (gut) leben kann. Menschen in Armut sind statistisch häufiger chronisch krank oder schwerer gesundheitlich beeinträchtigt.

Der Sozialstaat reduziert nicht nur Armut, er macht uns alle reicher: Erstens erhöht die Umverteilung das Einkommen für Geringverdienende. Wer arm ist, gibt jeden zusätzlichen Cent für Grundbedürfnisse aus und kurbelt damit Konsum und Wirtschaftskreislauf an. Zweitens ist eine Reduktion der Ungleichheit klimafreundlich: Das einkommensstärkste Viertel in Österreich hat einen mehr als doppelt so hohen CO2-Fußabdruck als Menschen aus dem untersten Viertel. Drittens gefährdet hohe Ungleichheit die Demokratie, weil Reiche die Politik übermäßig beeinflussen. Zusätzlich zum Kreuz am Wahltag können sie etwa Lobbying betreiben oder an Parteien spenden, um ihre Interessen durchzusetzen – oft konträr den Interessen der Vielen. Im Nebenjob erleichtert der Wohlfahrtsstaat also sozial gerechten Klimaschutz und hilft, dass das Land besser funktioniert.

Lücken im Sozialstaat schließen

Doch er könnte noch viel mehr, wenn die Politik ihn ausbaut. Trotz des sozialen Netzes leben noch 931.000 Erwachsene in Armut. Für eines der reichsten Länder dieser Erde einige Hundertausende zu viel. Ein Riss im Netz ist das niedrige Arbeitslosengeld. Jede zweite Person, die über ein Jahr keinen Job findet, ist armutsgefährdet. Die in der Krise hart getroffene Gruppe der kleinen Selbstständigen musste Einkommenseinbußen über 40 Prozent hinnehmen, weil sie keinen rechtlichen Anspruch auf Einkommensersatz hatte. Eine verpflichtende Arbeitslosenversicherung hätte die Auswirkungen auf sie abfedern können. Eine weitere Baustelle tut sich bei Alleinerziehenden auf: Trotz Sozialleistungen ist noch jede Dritte der meist Frauen armutsgefährdet.

Angesichts dieser Zahlen wirkt eine Diskussion über Kürzungen im Sozialstaat wie eine Themenverfehlung. Zu groß sind die Lücken, die geschlossen werden müssen: Leistbares Wohnen, ein höheres Arbeitslosengeld, eine bessere Absicherung für Selbstständige und der Ausbau von Kinderbetreuung können vier nächste Schritte sein, um die verbleibende knappe Million Menschen aus der Armut zu holen.

 

Dieser Text erschien zunächst als Gastkommentar in der Wiener Zeitung.

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