Kriegsfolgen, Klima- und Energiekrise und Preisexplosionen stellen uns vor Verteilungsfragen: Wer trägt die Lasten, wer streift exzessive Gewinne ein – und wer sorgt für einen sozialen Ausgleich? Die Hilfspakete der Regierung reichen nicht aus, um die Krisenfolgen abzufangen. Nun sind die Sozialpartner gefordert: Will man den Kaufkraftverlust nachhaltig bremsen, müsste die Herbstlohnrunde kräftige Lohnerhöhungen bringen.
Die Teuerung bedeutet für vier Millionen unselbstständig Beschäftigte in Österreich einen empfindlichen Reallohnverlust. Mit über neun Prozent erreicht die Inflationsrate im Juli den höchsten Wert seit fast 50 Jahren, der tägliche Einkauf ist um knapp ein Fünftel teurer als im Vorjahr. Bei den Lohnverhandlungen bildet traditionell der Jahresdurchschnitt der Teuerung seit dem vorangegangenen Herbst die Verhandlungsbasis. Die liegt heuer zwischen sechs und sieben Prozent. Die Löhne folgen in Österreich also den Preisen, nicht umgekehrt.
Dennoch warnt die Arbeitgeberseite seit Monaten vor einer drohenden Lohn-Preise-Spirale: Hohe Lohnabschlüsse würden die Teuerung noch weiter antreiben. Für diese Behauptung gibt es so gut wie keine wissenschaftliche Evidenz. Insbesondere wenn – wie in Österreich der Fall – die Inflationsrate des vergangenen Jahres als Verhandlungsgrundlage dient und nicht eine geschätzte zukünftige. Für Entspannung sorgt auch der Blick zurück: Als die Inflationsrate 1975 das letzte Mal so hoch war, stiegen die Löhne der Beschäftigten im Schnitt um 13 Prozent, die Pensionen um rund zehn Prozent. Die prophezeite Pleitewelle blieb aus, auch Lohn-Preis-Spirale drehte sich keine.
Jedes Jahr produktiver
Die jährliche Lohnerhöhung gleicht übrigens nicht nur die Teuerung aus. Jedes Jahr werden die Betriebe – auch dank ihrer Beschäftigten – produktiver: Sie schaffen mehr in weniger Zeit. An diesem Fortschritt gehören die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ebenfalls beteiligt, historisch gelang das bisher auch über eine kürzere Arbeitszeit. Seit der letzten Arbeitsverkürzung vor über 40 Jahren hat sich unsere Produktivität übrigens vervierfacht, hier mit kürzeren Arbeitstagen nachzuziehen ist also überfällig.
Den Gewerkschaften muss klar sein: Auch unter Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sind die Krisenkosten ungleich verteilt. Die Teuerung trifft ärmere Haushalte am stärksten. Das ärmste Zehntel der österreichischen Haushalte kostet die Teuerung heuer im Durchschnitt mehr als ein Monatseinkommen. Das reichste Zehntel muss nur ein halbes Monatseinkommen zusätzlich aufwenden. Die alleinerziehende Mutter, die eine kaputte Waschmaschine vom Privatkonkurs entfernt ist, trifft das hart – sie kann auf keine Reserven zurückgreifen. Betroffene wie sie brauchen überproportionale Einkommenssteigerungen. Das gilt genauso für Pensionen: Wer mit seiner Pension an oder sogar unter der Armutsgrenze leben muss, braucht heuer ein kräftiges Pensionsplus.
Dieser Text erschien zunächst als „Pro“-Kommentar in einem „Pro und Kontra“ in DER STANDARD.