
Europas Fiskalregeln wackeln. Die Frage lautet nicht mehr, ob sie gelockert werden, sondern wofür. Nur für militärische Aufrüstung – oder endlich auch für Bildung, Infrastruktur und Klimaschutz?
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen plant, Europas Budgetregeln zu lockern. 800 Milliarden Euro sollen die Länder der EU künftig für Rüstungsausgaben mobilisieren. Angesichts der geopolitischen Bedrohung ist der Wunsch nach Aufrüstung da. Doch wessen Sicherheit wird hier eigentlich priorisiert? Wenn Schuldenregeln für Panzer und Raketen gelockert werden können, warum nicht auch für Bildung, Infrastruktur oder Klimaschutz?
Die Aufweichung der überstrengen Budgetregeln ist überfällig. Die EU braucht ihre Handlungsfähigkeit zurück. Große staatliche Konjunkturpakete sind notwendig, um das Schrumpfen der Wirtschaft umzukehren. Österreich erlebt 2024 das dritte Rezessionsjahr in Folge, Deutschland geht es nicht besser. Europas Budgetregeln sind dem nicht gewachsen, erzwingen nach wie vor gesamtwirtschaftlichen Irrsinn. Mitten in der Wirtschaftskrise der Privatwirtschaft verpflichten sie die Regierung zu Ausgabenkürzungen und Steuererhöhungen. Der kranken Patientin verordnen die irrsinnigen Regeln damit noch eine Hungerkur. Im Aufschwung, wenn die Steuereinnahmen sprudeln, müssen die Finanzregeln die Regierung zum Sparen zwingen. Im wirtschaftlichen Tal der Tränen muss es dem Staat aber erlaubt sein, die Wirtschaft mit mehr Ausgaben anzukurbeln.
Es ist ein Fehler, dass die Budgetregeln nur für Waffenkäufe gelockert werden sollen. Explodiert eine angeschaffte Rakete, begräbt sie ihr Ziel und das sündteure Geld für den Kauf gleich mit. Nutzen für die Zukunft gibt es keinen. Anders bei Kindergärten. Bringt eine Sprachpädagogin vielen Kindern Deutsch bei, profitieren die Kinder ein ganzes Berufsleben lang – und ihre künftigen Arbeitgeber:innen gleich mit. Genauso Infrastruktur: Finanziert der Staat Bahngleise für Züge, transportieren die uns jahrzehntelang. Ein staatlich investierter Euro in frühkindliche Bildung oder Infrastruktur bringt fünf- bis sechsmal so viel wirtschaftlichen Nutzen wie ein Euro für Waffen. Staatliche Investitionen in Bildung, Forschung, (digitale) Infrastruktur und grüne Technologien schaffen Arbeitsplätze, Wohlstand und sichern Europas Wettbewerbsfähigkeit.
Europa darf die historische Chance einer aktiven Fiskalpolitik nicht nur für mehr Aufrüstung nutzen – wir müssen gezielt in die wirtschaftliche und soziale Zukunft investieren. Das verlangt nicht nur die militärische Lage, sondern auch die politische. Parteien, die es mit der Demokratie nicht so genau nehmen, sind auf dem Vormarsch. Die USA haben einen Präsidenten, der zum Staatsstreich aufgerufen hat. Östlich von uns in Ungarn herrscht die illiberale Demokratie. Legen sich die kerndemokratischen Parteien nun auf „Kanonen statt Butter“ fest, kürzen sie den Sozialstaat für mehr Waffen. Das kann ihr politisches Ende einläuten. Auch Österreich macht ein Sparpaket bei Pensionist:innen, bei der Infrastruktur und bei der Gesundheit, plant aber bis 2032 knapp sieben Milliarden mehr für die Aufrüstung ein.
Gleichzeitig mehr Mittel für Soziales und Waffen bedeutet einen finanziellen Spagat. Ihn auflösen kann nur eine faire Finanzierung. Eine Zeit lang kann Österreich Waffenkäufe mit neuen Schulden bezahlen. Aber mittelfristig müssen wir die Finanzierung auf solide Beine stellen. Die Rechnung für das Wettrüsten zahlt sonst die breite Bevölkerung allein. Dazu muss die Regierung die Profiteure des Ukraine-Kriegs stärker in die Pflicht nehmen. Die Milliardenprofite der Energiekonzerne und Banken können viel stärker abgeschöpft werden. Zudem ist eine europaweite Übergewinnsteuer für Rüstungsfirmen angebracht.
Die neue österreichische Regierung steht jetzt vor der Entscheidung: Begnügt sie sich mit passiver Zustimmung zu europäischer Aufrüstung, oder setzt sie sich aktiv für eine Neuorientierung der Finanzpolitik ein? Weichen die EU-Finanzminister die Regeln auf, können sie zentrale Investitionen in anderen Bereichen dem Spardiktat entziehen. Finanzminister Markus Marterbauer sollte diese Chance nutzen und Europa nicht allein den Waffenproduzenten überlassen.
Dieser Text erschien zunächst als Gastkommentar im Standard.