Arbeitslosigkeit

Verschärfungen für Arbeitslose

Arbeitsamt

Arbeitslosen Menschen kürzt das Arbeitsmarktservice ihr Arbeitslosengeld bzw. ihre Notstandshilfe immer öfters.Von 2018 bis 2019 ist die Zahl der Bezugssperren des AMS stark angestiegen (DerStandard,Heute,ORF). Doch dieser Trend besteht schon seit 2017 Ex-Sozialministerin Hartinger-Klein in der Regierung Kurz begonnen hat. Pro 100 vorgemerkten Arbeitslosen (inkl. SchulungsteilnehmerInnen) sprach das Arbeitsmarktservice rund 24,5 Sperren im Jahr 2016 (noch unter der Regierung Kern-Mitterlehner) aus, aber bereits 38,4 im ersten Halbjahr 2019. In absoluten Zahlen bedeutet das einen Anstieg der Sperren von knapp über 100.000 2016 auf prognostiziert knapp 150.000 für 2019. Ein strenges System an Bezugssperren ist notwendig, um zu vermeiden, dass wahrlich arbeitsunwillige Personen Arbeitslosengeld erhalten. Dieses ist jedoch schon seit Jahrzehnten vorhanden: Bereits im Jahr 2010 gab es schon über 100.000 Sperren. Die wenigsten Sperren erfolgen jedoch aufgrund von „genereller Arbeitsunwilligkeit“. Im Jahr 2018 traf das nur auf jede 250. Sperre zu. In absoluten Zahlen waren es nur 500 bei über 100.000 Sperren und 380.000 Arbeitslosen. Dass ein noch überstrenges, zur Schikane verkommendes System an zusätzlichen Bezugssperren zu niedrigerer Arbeitslosigkeit führt, stimmt aber nicht. Denn die Arbeitsplätze für die hunderttausenden Arbeitslosen sind zumeist einfach nicht vorhanden. Eine Studie (S.68), die vom AMS selbst in Auftrag gegeben wurde, kam zum Schluss:

Zusammenfassend finden sich keine Hinweise darauf, dass ein intensiverer Einsatz von Sanktionen ein  wirksames  Mittel  wäre,  um  die  Reintegration  in  Beschäftigung  zu  erhöhen.  Wenn,  dann  ist  eher  zu  erwarten,  dass  damit  ein  häufigerer  Rückzug  aus  dem  Arbeitsmarkt  verursacht würde.

Die von der vorherigen und künftigen(?) Bundesregierung verfolgte Linie, Gelder für sinnvolle Arbeitsmarktpolitik (Deutschkurse, Öffentliche Beschäftigung im Rahmen der Aktion 20.000) zu streichen und stattdessen auf zusätzliche Sperren des Arbeitsmarktservice zu setzen, wird jedenfalls die Arbeitslosigkeit nicht senken. Zu mehr Schikane und Frust bei den Arbeitslosen führt sie aber allemal.

Leistung muss sich wieder lohnen!

Leistungsgerechtigkeit

„Leistung muss sich wieder lohnen“ ist ein vielgebrauchter politischer Slogan, der häufig im Kontext von „Fairness“ und „Gerechtigkeit“ verwendet wird. Doch was ist mit „Leistung“ eigentlich gemeint? Ist der gesellschaftliche Status einer Person wirklich das Resultat ihrer persönlichen Anstrengung? Und sind Armut und Arbeitslosigkeit im Umkehrschluss gleichbedeutend mit Leitungsunwilligkeit?

Was wissen wir?

Auf Leistung folgt Gerechtigkeit – so lautet das umstrittene Versprechen der klassischen Kapitalismusideologie. Man muss sich anstrengen, um etwas zu erreichen. Allerdings sind die Aufstiegsmöglichkeiten in vielen westlichen Demokratien längst nicht mehr so gut wie noch vor 30 Jahren. Armut und Reichtum verfestigten sich, Erwerbsarbeit wird zunehmend entwertet, die Chancen im Bildungssystem aufzusteigen sind für Kinder aus ökonomisch schwachen Familien gering. Während die strukturellen Bedingungen soziale Ungleichheit verfestigen, wird gleichzeitig die Verantwortung für den sozialen Status stark zum Individuum verlagert.

War die Arbeitslosenversicherung ehemals eine finanzielle Leistung für Versicherte für den Fall, dass ihre Arbeitskraft nicht eingesetzt werden kann oder nachgefragt wird, wird sie im öffentlichen Diskurs heute zu einem finanziellen Anreiz für Menschen mit geringer Erwerbsorientierung gemacht, die auf Kosten anderer leben wollen. Am skandalösesten ist es, wenn Bezieher*innen mehr herausbekommen, als sie eingezahlt haben. Dabei ist das genau das Prinzip einer solidarischen Umverteilung. Ansonsten könnte ja gleich jede*r für sich individuell vorsorgen. Statusunterschiede werden heute weniger graduell wahrgenommen, als vielmehr in den zwei Kategorien „die da oben“ und „die da unten“, „Leistungsträger*innen“ und „Leistungsverweigerer*innen“, „Gewinner*innen“ und „Verlierer*innen“, „Nützliche“ und „Nutzlose“. Die sozialen Grenzlinien sind kaum zu überschreiten, der Aufstieg nach oben immer schwieriger.

Die Logik des Markts dringt also auch in gesellschaftliche Sphären ein, die auf Basis des Solidaritätsprinzips entstanden sind. Neoliberale Kriterien dienen heute als allumfassende Grundlage der Bewertung von Personen, dazu zählen Effizienz, Verwertbarkeit, Funktionsfähigkeit, oder sichtbare Nützlichkeit für den volkswirtschaftlichen Erfolg. Doch welche Leistung lohnt sich eigentlich – und für wen?

Was wird diskutiert?

Talking Point

Kontext

„Leistung muss sich lohnen“

Leistung lohnt sich für viele Menschen in Österreich nicht. Erwerbsarbeit hat seinen armutsvermeidenden Charakter verloren und 316.000 Menschen gelten trotz Arbeit als arm (“Working Poor”). Versorgungsarbeit wie Hausarbeit, Erziehung, Betreuung oder Pflege - also jene Leistungen, die für eine funktionierende Wirtschaft und den Erhalt der Gesellschaft die Grundvoraussetzung bilden - ist unbezahlt. Das wirkt sich insbesondere nachteilig für Frauen aus, die nach wie vor den Großteil der wenig sichtbaren „Care-Arbeit“ übernehmen. Die Gesamtarbeitszeit von Frauen, die Teilzeit arbeiten, ist teilweise höher als jene von ihren Partnern, die Vollzeit arbeiten. Und das hat langfristig verheerende Auswirkungen. Frauen, die ihr Leben lang auf der Haushalts- und Familienebene sehr viel geleistet haben, weisen mitunter eine höhere Armutsgefährdung und niedrigere Pensionen auf.

„Arbeitslose sind leistungsunwillig“

In manchen Fällen ist Arbeitslosigkeit tatsächlich freiwillig und liegt an fehlendem Interesse oder der persönlichen Entscheidung für eine berufliche Auszeit. Aber neben solchen subjektiven Motiven gibt es eine Vielzahl an weiteren möglichen Gründen, warum man gerade keinen Job hat. Das Scheitern bei der Realisierung von beruflichen Zielen ist von verschiedenen Faktoren abhängig und beeinflusst, die zum Teil miteinander verstrickt sind und sich wechselseitig verstärken, wie z.B.

  • wirtschaftlich krisenhafte Entwicklungen und bestimmte Reaktionen des Staates darauf

  • Technologisierung und Automation (z.B. wenn menschliche Arbeitskraft durch Computer, Maschinen oder Roboter kostengünstiger ersetzt wird),

  • die Auslagerung von Arbeit in sogenannte „Billiglohnländer“,

  • fehlende soziale Unterstützung,

  • persönliche Schicksalsschläge,

  • die soziale Herkunft (z.B. wenn man in einer Familie aufgewachsen ist, in der Arbeitslosigkeit eher die Norm ist, als die Ausnahme),

  • Diskriminierung (z.B. wenn soziale Vorurteile gegenüber Älteren, Frauen, körperlich Beeinträchtigten, ausländischen Arbeitnehmer*innen, Vorbestraften oder Langzeitarbeitslosen bestehen),

  • mangelnde Infrastruktur (z.B. wenn große Unternehmen in der Region zugesperrt haben),

  • größere Konkurrenz am Arbeitsmarkt (z.B. wenn eine selbstständige Kosmetikerin in der österreichischen Grenzregion aufgrund der günstigeren Dienstleistungsangebote in Ungarn Kundinnen aus Österreich verliert),

  • fehlende Chancen persönlicher Entwicklung

  • und vieles mehr.

Insgesamt gilt es festzuhalten: Inwiefern Arbeitslosigkeit in Österreich freiwillig oder unfreiwillig ist, kann aufgrund einer mangelnden Datenlage nicht festgestellt werden.

„Die eigene Position in der Gesellschaft definiert sich über die Leistung“   

Der dominierende Diskurs möchte uns glaubhaft machen, dass jedes Mitglied der Gesellschaft seine “verdiente” wirtschaftliche Position annimmt. Dementsprechend wird das Thema Arbeitslosigkeit immer stärker zu einer moralischen Wertigkeitsprüfung. Auf der emotionalen Ebene lässt sich mit derartigen Bildern relativ einfach Empörung über mutmaßlich Schuldige hervorrufen. Und diese scharf gezogene moralische Grenzlinie setzt Prozesse der Entsolidarisierung in Gang. Dabei wird außer Acht gelassen, dass die soziale Herkunft eine große Rolle in der Statusverteilung spielt, denn Armut und Vermögen werden in Österreich innerhalb der Familie weitervererbt.

„Es gilt das Prinzip: Gleiche Bezahlung für gleiche Leistung“   

In Österreich wird dieses Prinzip nicht durchgängig angewandt. So werden Preise von Frisierdienstleistungen, die den gleichen Zeitaufwand und Schwierigkeitsgrad erfordern (z.B. Kurzhaarschnitt), je nach Geschlecht unterschiedlich angesetzt („Gender Pricing“). Zudem berechnet sich für bestimmte berufliche Tätigkeiten das Gehalt von Mitarbeiter*innen nicht primär nach Arbeitsleistung, sondern nach Verhandlungsgeschick.

„Höhere Verantwortung und Belastung wird höher entlohnt“

Hoch entlohnt werden insbesondere gewinnbringende Tätigkeiten. Und dieses Prinzip sollte gesamtgesellschaftlich hinterfragt werden. Denn: Warum bekommt eine Kindergartenpädagogin, die die wichtige Aufgabe erfüllt, Kinder gemeinschaftlich zu einem integralen Teil der Gesellschaft zu erziehen, dabei täglich einem hohen Lärmpegel ausgesetzt ist und physische und mentale Anstrengungen in Kauf nimmt, nur ein Drittel des Gehalts eines "SAP-Beraters", der technische Standard-Unterstützung für den Einsatz von Standardsoftwaremodulen in Unternehmen und Verwaltung erbringt? Welche Wertehaltungen stecken hinter der unterschiedlichen finanziellen Bewertung von Tätigkeiten und inwieweit ist das gesellschaftlich zuträglich? Eine grundlegende Diskussion zu diesem Thema wäre zielführend.

 

Leseempfehlung:


Verheyen, Nina (2018): Die Erfindung der Leistung. München: Hanser.
Hartmann, Michael  (2013): Soziale Ungleichheit - Kein Thema für die Eliten? Frankfurt/Main: Campus.
Wiesböck, Laura (2018): Armut und Vermögen. In: In besserer Gesellschaft. Der selbstgerechte Blick auf die Anderen (84-98). Wien: Kremayr & Scheriau.


Quellen:

Cingano, Federico (2015): Income Inequality, Social Mobility and Economic Growth. Paris: OECD Publishing. Link:  https://www.oecd.org/eco/growth/NERO-22-June-2015-income-inequality-social-mobility-and-economic-growth.pdf
Statistik Austria (2019): "Working Poor" nach Eurostat-Definition 2008 bis 2018. Link: https://www.statistik.at/web_de/statistiken/menschen_und_gesellschaft/soziales/armut_und_soziale_eingliederung/080919.html
Schönpflug, Karin / Eberhardt, Viktoria (2019): Gender Pricing. Ein Baustein in der Betrachtung von geschlechtsspezifischer Ungleichheit. Wien: IHS. Link: https://irihs.ihs.ac.at/id/eprint/5146/1/ihs-report-2019-schoenpflug-eberhardt-gender-pricing.pdf
Piketty, Thomas (2014): Das Kapital im 21. Jahrhundert. München: C.H. Beck

Langzeitarbeitslosigkeit in Österreich

Langzeitarbeitslosigkeit

Für wie viele Personen in Österreich funktioniert der Arbeitsmarkt von Jahr zu Jahr nicht mehr? Eine auf die Einerstelle genaue Antwort gibt es auf diese Frage nicht, sehr wohl aber eine Definition und Abgrenzung betroffener Personenkreise mittels verschiedener statistischer Kennzahlen, die eine gute Einschätzung der Größenordnung ermöglichen.1 Wie steht es um die Chancen von Langzeitarbeitslosen am Arbeitsmarkt? Obwohl rezente Studien spärlich gesät sind, gibt zumindest die Forschungstätigkeit des letzten Jahrzehnts keine erbauliche Antwort.

Abbildung 1: Ausgewählte Arbeitslosenquoten in Österreich, 2008-2018

Quelle: AMS DWH, eigene Berechnung

In Abbildung 1 ist zu sehen (untere Linie), dass die Langzeitarbeitslosigkeit – der Definition des Arbeitsmarktservice Österreich (AMS) folgend gemessen als Langzeitbeschäftigungslosenquote (LZBL-Quote)2 – im Zuge der Wirtschaftskrise stark angestiegen ist: von 1,5% im Jahr 2008 auf bis zu 4% im Jahr 2016. Im letzten verfügbaren Jahreswert (Durchschnitt 2018) liegt sie bei 3,5% – niedriger als der Höchststand, aber immer noch weit über dem Wert vor der Wirtschaftskrise.


Schlechte Chancen für Langzeitarbeitslose auf ein Beschäftigungsverhältnis


Zwar gibt es keine ausführlichen Berechnungen zu den Chancen von langzeitarbeitslosen Personen am Arbeitsmarkt in den vergangenen fünf Jahren, dennoch lohnt jedoch ein Blick auf die bisherige Forschung zur Zweiteilung des Arbeitsmarktes. Eppel et al. (2013) analysieren die gesamte Arbeitslosigkeit im Zehnjahreszeitraum 2000-2010. Sie weisen auf eine starke Konzentration der in Arbeitslosigkeit verbrachten Tage bei einer kleinen Gruppe von Erwerbspersonen hin. Jene 5% mit der höchsten Anzahl an Arbeitslosigkeitstagen von 2000 bis 2010 waren im gesamten Zeitraum fast an jedem zweiten Tag (46) in Arbeitslosigkeit (AL), während die restlichen 95% der betrachteten Erwerbspersonen im Schnitt lediglich 2,5 der Zeit arbeitslos waren. Die hauptbetroffenen 5,8 der Erwerbspersonen haben zusammen 50 der AL-Tage akkumuliert und die nachfolgenden 9,3 der Personen weitere 30 der Tage angesammelt.3  Daher ist eine sogenannte Segmentation (Schichtung) innerhalb der Erwerbstätigen festzustellen. Die meisten Erwerbstätigen waren in diesen zehn Jahren gar nie arbeitslos. Dann gibt es eine breite Gruppe, die nur kurz bzw. selten arbeitslos ist. Und schließlich gibt es eine (zu große) Gruppe an Menschen, die dauerhaft bzw. häufig wiederkehrend arbeitslos ist (Eppel et al. 2017,2018). Eppel et al. (2013) führen auch eine Längsschnittanalyse der Arbeitslosigkeit für den Zeitraum 1999-2010 durch – eingeschränkt auf jene, die in der Zweijahresperiode 1999-2000 zwischen 16 und 44 Jahre alt waren, um Abgänge in die Pension auszublenden. 30 der Arbeitskräfte, die in der Zweijahresperiode 1999-2000 dominant arbeitslos waren, sind dies auch noch zehn Jahre später in der Zweijahresperiode 2009-2010.4 In einer Folgestudie des WIFO5 untersuchen Eppel et al. (2014) die fünfjährige Vorkarriere von Arbeitslosen des Jahres 2010-2013 und untergliedern alle Arbeitslosen in sieben Typen.6 Der/die vom WIFO so bezeichnete Typ 7 Arbeitslose war über 2,5 Jahre (914 Tage) im Fünfjahreszeitraum arbeitslos und zumindest einmal länger als ein halbes Jahr am Stück (183 Tage).7 Diese Menschen verbrachten von den betrachteten fünf Jahren rund drei Viertel der Zeit in Arbeitslosigkeit und nur rund elf Monate (knapp 18%) in irgendeiner Form von Beschäftigung -- davon 13,6 Prozentpunkte in ungeförderter Beschäftigung (Eppel et al. 2014, S. 64-65). Im Median dauerte deren längste Arbeitslosigkeitsepisode innerhalb (oder gegebenenfalls zum Teil außerhalb) der fünfjährigen Vorkarriere über drei Jahre (1017 Tage). Eppel et al. (2015) untersuchen jene 119.205 Personen, die im Jahr 2012 arbeitsmarktfern waren und gleichzeitig aufgrund ihrer fünfjährigen Erwerbsgeschichte 2008-2013 dem Arbeitslosen-Typ 7 angehörten und somit auch als längerfristig arbeitsmarktfern zählten.8 Von dieser Gruppe nahmen nur 28.416 (23,8%) eine Standardbeschäftigung auf, davon 20.330 (17,1%) eine mit einer Dauer von mindestens 63 Tagen (über 2 Monaten).9 Als Standard-Beschäftigung wird eine unselbständige Beschäftigung über der Geringfügigkeitsgrenze am ersten Arbeitsmarkt identifiziert (exklusive freien Dienstverträgen), die nach dem Jahr 2012 enden oder bis zum Ende des Beobachtungszeitraums (Juli 2014) noch nicht geendet haben. Beschäftigungsverhältnisse am zweiten Arbeitsmarkt (SÖB, GBP, EB) werden nicht mitgezählt. In anderen Worten: alle Beschäftigungsverhältnisse, die mit mindestens einem Tag in den Zeitraum von Jänner 2013 bis Juli 2014 fallen. Von diesen 20.330 waren nur mehr 48,1% im Juli 2014, also rund eineinhalb Jahre später, noch in dem aufgenommenen Beschäftigungsverhältnis.10 Die sogenannte Übergangswahrscheinlichkeit in Beschäftigung betrug im gewichteten Mittel aller Altersgruppen somit 17,1%. Ausdifferenziert nach Alter nimmt die Aussicht auf ein Beschäftigungsverhältnis am ersten Arbeitsmarkt deutlich ab: 16-24-jährige hatten eine Wahrscheinlichkeit von 29,7%, 25-44-jährige von 23,7%, 45-54-jährige nur mehr von 14,5%, und bei den 55-65-jährigen schafft es mit 4,4% Wahrscheinlichkeit nicht einmal mehr einer von zwanzig.11 Die Studien des WIFO zeigen somit deutlich, dass es eine Gruppe besonders betroffener Personen gibt, die kaum eine Chance haben, ein Dienstverhältnis im regulären, nicht vom AMS geförderten, Arbeitsmarkt zu erhalten.  


Statistische Erfassung der Langzeitarbeitslosigkeit in Österreich


Die Arbeitsmarktstatistik und die wissenschaftliche Forschung bieten mehrere Indikatoren an, die zur Einschätzung der aktuellen Gruppengröße der Langzeitarbeitslosen verwendet werden können. Die Aussagekräftigsten sind die drei folgenden:

  • Der Bestand an registrierten langzeitbeschäftigungslosen Personen beim AMS
  • Studienergebnisse zur Betroffenheit von Langzeitarbeitslosigkeit über einen Zeitraum von mehreren Jahren (Eppel et al. 2014,2013,2012)
  • Die Zahl der NotstandshilfebezieherInnen (bzw. die NotstandshilfebezieherInnenquote) beim AMS

In Tabelle 1 werden diese drei Kennzahlen (sowie weitere Kennzahlen) in verschiedenen Ausprägungen als Bestand an einem durchschnittlichen Stichtag des jeweiligen Jahres präsentiert.

 

Tabelle 1: Indikatoren für verfestigte Arbeitslosigkeit in Österreich, Bestandskonzept, 2004-2018

1 Die Werte für 2010-2013 entsprechen dem Arbeitslosentyp 7 aus Eppel et al. 2014, Werte für 2005-2010 der Summe der jeweils letzten Spalten in Übersicht 21-26 (Dauer der längsten Episode >365 Tage, unabhängig vom Gesamtvolumen im jeweiligen Jahr) aus Eppel et al. (2014,2013). Die Klassifikation ist unterschiedlich. Im Jahr 2010 ist zunächst der Wert aus Eppel et al. (2013), anschließend jener aus Eppel et al. (2014), angeführt. Die Werte für 2014-2018 sind eine wenig verlässliche Schätzung auf Basis einer Regressionsgeraden mit den Daten 2010-2013, der als erklärende Variable die Gesamtarbeitslosigkeit zugrunde liegt. Die Zeitreihe entspricht nicht ausschließlich dem Bestandskonzept.
Quellen: AMS, WIFO, eigene Berechnung

 

 

Ein Konzept ist jenes der Langzeitbeschäftigungslosigkeit, welches vom AMS erhoben wird. Sobald eine Person netto über 365 Tage arbeitslos vorgemerkt ist, zählt sie zu dieser Gruppe. Jede beim AMS vorgemerkte Person verfügt über einen Status (z.B. arbeitslos AL, in Schulung SC, gesundheitliche Abklärung der Arbeitsfähigkeit bei der Pensionsversicherung AG, lehrstellensuchend LS, usw.). Die Längen der verschiedenen Statusepisoden werden zusammengerechnet, wobei nur Krankenstände über 62 Tage (2 Monate) und „freiwillige“12 oder unfreiwillige Abmeldungen vom Leistungsbezug über 62 Tage den Geschäftsfall einer Person unterbrechen. In diesem Fall beginnt die Zählung bei einer Rückkehr wieder von einem neuen ersten Tag im Rahmen eines neuen Geschäftsfalls -- obwohl es sich um die gleiche Person handelt.13 Geförderte Beschäftigung von über 2 Monaten hat die gleiche Wirkung auf die Statistik. Dadurch ergibt sich eine gewisse Anzahl an Personen, die zu einem bestimmten Stichtag nicht als langzeitbeschäftigungslos gezählt werden, obwohl ihre anhaltenden Probleme am Arbeitsmarkt dies eigentlich rechtfertigen würden. Trotz gewisser Unschärfen ist dies die bekannteste Kennzahl für Langzeitbeschäftigungslosigkeit: In Spalte 2 der Tabelle 1 befinden sich jene, die aktuell auf Arbeitssuche sind, in Spalte 3 werden die Personen hinzuaddiert, die sich in einer Schulungsmaßnahme befinden und daher dem Arbeitsmarkt bis zum Ende der Schulung nicht sofort zur Verfügung stehen, und in Spalte 4 ist die eigentliche Kennzahl der Langzeitbeschäftigungslosigkeit, die Langzeitbeschäftigungslose jeglicher Status umfasst.14 
Eine weitere Kennzahl für Langzeitarbeitslosigkeit ist die Zahl der BezieherInnen von Notstandshilfe beim AMS in Spalte 5. Arbeitslose haben nach dem Ende ihres Anspruchs auf Arbeitslosengeld bei Vorliegen einer Notlage einen Anspruch auf Notstandshilfe. Besonders bei jüngeren Menschen läuft der Anspruch auf Arbeitslosengeld allerdings bereits nach wenigen Monaten aus, auch wenn sie noch nicht langzeitbeschäftigungslos sind. Dennoch ist die Quote ein guter, weiterer Indikator für Langzeitarbeitslosigkeit, weil sie auch jene Personen anzeigt, die durch ausreichend lange geförderte Beschäftigung (über drei Monate) oder aufgrund eines längeren Krankenstands, trotz vorhergehender Langzeitarbeitslosigkeit einen neuen Geschäftsfall zugewiesen bekommen haben.
Als zusätzlicher Indikator für Menschen mit den größten Arbeitsmarktproblemen können die oben erwähnten WIFO-Studien herhalten (Eppel et al. 2014), deren Arbeitslose des Typ 7 innerhalb von fünf Jahren mindestens über 2,5 Jahre arbeitslos waren. Nachdem das letzte verfügbare Jahr zum Zeitpunkt der Studie 2013 war, liegen aktuellere Daten nicht vor und werden für die Zeitreihe in Spalte 6 der Tabelle bis 2017 grob geschätzt und fortgeschrieben. Für 2005-2009 stammen die Daten aus Eppel et al. (2013), deren Definitionen nicht präzise mit den Jahren danach übereinstimmen. Der Zeitreihenbruch wird im Jahr 2010 ersichtlich, für welches Zahlen aus beiden Studien angegeben werden.

Abbildung 2: Geschäftsfalldauer, Bestand nach Dauer, Österreich 1950-2018

Quelle: AMS DWH, eigene Darstellung

Dass Arbeitslose unter steigender Dauer ihrer Arbeitslosigkeit leiden, sieht man im ebenfalls vom AMS erstellten Indikator der Nettogeschäftsfalldauer, der in den letzten beiden Spalten der Tabelle 1 teilweise angeführt sowie in Abbildung 2 graphisch abgebildet ist. Klar erkennbar ist ein erster Anstieg der Arbeitslosigkeit von 2008 auf 2009, der sich bei den nur bis zu 3 Monaten Arbeitslosen auf einem leicht höheren Niveau wieder stabilisiert (oberste Linie). Schrittweise werden Menschen jedoch in die Kategorien mit höherer Verweildauer in der Arbeitslosigkeit „durchgereicht“. Ab 2009, 2010, und besonders stark ab 2013 steigt die Zahl der Menschen mit einer Geschäftsfalldauer von über einem Jahr (durchgehend schwarze Linie). Mit einem Jahr Verspätung hebt 2009 und mit enormer Dynamik ab 2014 die Zahl der Menschen mit Geschäftsfalldauer von 2-5 Jahren ab, um im Jahr 2017 sogar jene mit einjähriger Dauer einzuholen. Seit dem Jahr 2009 entspricht dies einer Vervierfachung der Personen mit 2-5-jähriger Geschäftsfalldauer von knapp 20.000 auf knapp 80.000 Personen an einem durchschnittlichen Stichtag. Ab 2014 verdreifacht sich von einem niedrigen Niveau aus auch die Zahl der Personen mit einer Geschäftsfalldauer von über 5 Jahren auf fast 15.000.   
Aus dem Vergleich der drei wesentlichen Kennzahlen der Langzeitarbeitslosigkeit lässt sich schließen, dass sie trotz unterschiedlicher Definitionen eine ähnlich hohe Gesamtzahl an Langzeitarbeitslosen anzeigen. Der am stärksten von Arbeitslosigkeit betroffene Personenkreis betrug somit an einem durchschnittlichen Stichtag im Jahr 2018 circa 145.000 Personen. Im Jahr 2016 – dem schlechtesten Jahr der vergangenen Jahrzehnte – lag er bei rund 160.000.

 

Literatur

Eppel, R., Bock-Schappelwein, J., Famira-Mühlberger, U. & Mahringer, H. (2018): Der österreichische Arbeitsmarkt seit der Wirtschaftskrise. In: WIFO-Monatsberichte, 91, 3: 191-204.
Eppel, R., Horvath, T. & Mahringer, H. (2012): Die Struktur und Dynamik von Arbeitslosigkeit, atypischer Beschäftigung und Niedriglohnbeschäftigung in der Längsschnittanalyse 2000/2010. Österr. Inst. für Wirtschaftsforschung (WIFO). Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz.
Eppel, R., Horvath, T. & Mahringer, H. (2013): Eine Typologie Arbeitsloser nach Dauer und Häufigkeit ihrer Arbeitslosigkeit, Österr. Inst. für Wirtschaftsforschung (WIFO).
Eppel, R., Horvath, T. & Mahringer, H. (2014): Eine Typologie Arbeitsloser nach Dauer und Häufigkeit ihrer Arbeitslosigkeit 2010-2013, Österreichisches Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO).
Eppel, R., Leoni, T. & Mahringer, H. (2017): Österreich 2025 - Segmentierung des Arbeitsmarktes und schwache Lohnentwicklung in Österreich. In: WIFO-Monatsberichte, 90, 5: 425-439.
Eppel, R. u. T. H., Mahringer, H., Hausegger, T., Hager, I. & Reidl, C. (2015): Arbeitsmarktferne Personen - Charakteristika, Problemlagen und Unterstützungsbedarfe, Österreichisches Institut für Wirtschaftsforschung und Prospect GmbH.
Picek, O. (2019): Eine Jobgarantie für Österreichs Langzeitarbeitslose, Appendix A

Fußnoten

1 Der vorliegende Text ist eine Abwandlung des Appendix A aus Picek (2019).
2 Die Langzeitbeschäftigungslosenquote dividiert die Zahl der Langzeitbeschäftigungslosen (dazu weiter unten mehr) durch die Zahl der Unselbstständig Erwerbstätigen plus Arbeitslosen und Personen in Schulung.
3 Betrachtet man nur ein Jahr, sind diese Anteile geringer. Beispielsweise im Jahr 2000 akkumulierten lediglich 3,3 der Personen 50 der Tage in Arbeitslosigkeit. 80 der Tage wurden von 7,3 der Personen angehäuft, im Gegensatz zu 15,1 im Zehnjahreszeitraum. Die Geschlechterunterschiede sind dabei nur gering.
4 Dominant in der Definition des von Eppel et al. (2013) bedeutet, dass die längste Episode im betrachteten Zweijahreszeitraum von Arbeitslosigkeit geprägt waren. Eine detaillierte Definition ist auf Seite 44 der Studie zu finden.
5 Österreichisches Institut für Wirtschaftsforschung
6 Obwohl die Typen 3-6 durchaus von Arbeitslosigkeit betroffen sind, verzeichnen diese noch mehr Tage in ungeförderter, d.h. nicht vom AMS finanziell geförderter, unselbstständiger Beschäftigung, als in Arbeitslosigkeit.
7 Zahlen aus dem Jahr 2013, dem letztverfügbaren Jahr
8 Als arbeitsmarktfern gilt, wer im Jahresabstand nicht mehr als zwei Monate (<= 62 Tage) in Standardbeschäftigung und zumindest vier Monate (>= 120 Tage) arbeitslos vorgemerkt war (Eppel et al. 2015, S.9). Für die Gesamtheit aller 16- bis 65-jährigen Arbeitslosen des Jahres 2012 lag das durchschnittliche vorhergesagte Risiko, längerfristig arbeitsmarktfern zu sein, bei 13,1%.
9 siehe Übersicht 21 in Eppel et al. (2015)
10 Von den 20.330 Personen hatten 83,4 bis Ende Juli 2014 nur genau ein Beschäftigungsverhältnis.
11 siehe Übersicht 28 in Eppel et al. (2015). Die Übergangswahrscheinlichkeit wurde für aufgenommene Beschäftigungsverhältnisse im Zeitraum eines Jahres und sieben Monaten (Jänner 2013-Juli 2014) gemessen.
12 z.B. aufgrund einer sogenannten Paragraph 10 Sperre – Vereitelung der Arbeitsaufnahme
13 Kürzere Unterbrechungen beenden den Geschäftsfall nicht, womit nach Ende der Unterbrechung die Zählung der Arbeitslosigkeitstage weitergeführt wird.
14 Inklusive jene Personen, deren Arbeitsfähigkeit zum Stichtag abgeklärt wird. Abgezogen werden aber eine niedrige vierstellige Zahl an Personen, die eine mehrjährige Facharbeiterausbildung durchlaufen und so rein statistisch zu Langzeitbeschäftigungslosen gemacht werden, obwohl ihre Arbeitsmarktchancen nach Ende der Ausbildung erwartbar besser sein dürften.