Arbeitslosigkeit

Was kosten armutsfeste Sozialleistungen?

Wohlstand für alle kommt billiger als gedacht

Der österreichische Sozialstaat rettet Hunderttausende Menschen aus der Armut, aber nicht alle. Rund 18 Prozent der Bevölkerung sind armutsgefährdet bzw. leben in Armut. Wie kann das sein? Die Ausgleichszulage für Mindestpensionist:innen, die Mindestsicherung und das Arbeitslosengeld sind die wichtigsten sozialen Auffangnetze unseres Sozialsystems – aber sie sind noch ein großes Stück davon entfernt, zur Gänze vor Armut zu schützen. Viele Haushalte leben trotz Sozialleistungen unter der Armutsgefährdungsschwelle.

Ziel: Alle Haushalte über Armutsgefährdungsschwelle heben

Ein Zwischenziel auf dem Weg, die Sozialleistungen armutsfest zu machen, wäre dann erreicht, wenn sie die Armutsgefährdungsschwelle erreichen. Für alleinstehende Mindestpensionist:innen fehlen dafür noch rund 190 Euro. Für Bezieher:innen der Sozialhilfe oder eines durchschnittlichen Arbeitslosengelds sogar über 350 Euro.

In den letzten Jahren näherten sich ein Teil der Sozialleistungen langsam der Armutsgefährdungsschwelle an. Die Mindestpension und auch die Mindestsicherung hat die Bundesregierung stärker erhöht als vorgesehen. Für Arbeitslose gilt das allerdings nicht, obwohl Arbeitslosigkeit und vor allem auch Langzeitarbeitslosigkeit ein Hauptgrund für das Abrutschen in Armut sind.

Wie viel würde es kosten, alle Haushalte aus der Armut zu holen?

Höhere Sozialleistungen bedeuten auch höhere Ausgaben für den Staatshaushalt. Aber wie viel Geld müsste man eigentlich jährlich zusätzlich in die Hand nehmen, um alle in Österreich lebenden Menschen über die Armutsgefährdungsschwelle zu heben? Laut EU-SILC, der "EU-Survey on Income and Living Conditions", liegt das Medianeinkommen der armutsgefährdeten Haushalte in Österreich rund EUR 3.600 pro Jahr unter der Armutsgefährdungsschwelle, wobei diese Zahl für Einpersonenhaushalte gilt. Bei Mehrpersonenhaushalten ist die Zahl entsprechend größer. Diese Zahl nennt man auch Armutsgefährdungslücke. Insgesamt beträgt diese Lücke für alle armutsgefährdeten Haushalte in Österreich rund EUR 4,2 Mrd., oder rund 1 % des österreichischen Bruttoinlandsprodukts. Der Staat müsste also pro Jahr diese Summe in die Hand nehmen, um die Armutsgefährdungslücke komplett zu schließen. Die Staatsausgaben würden dadurch um 1,9 % steigen. Diese Zahl stellt allerdings eine Obergrenze dar. Denn durch das höhere Einkommen hätten die betroffenen Haushalte auch mehr Geld für Konsum zur Verfügung. Damit steigen auch die Steuereinnahmen des Staates wieder an. Im ersten Jahr wären dies bereits rund EUR 900.000.

Kurzarbeit sicherte fast 30 Millionen Arbeitsplätze in der EU

topgografische Karte Europas

Kurzarbeit sicherte fast 30 Millionen Arbeitsplätze in der EU 

Kurzarbeit und ähnliche Maßnahmen sicherten europaweit im Jahr 2020 mehr als 38 Millionen Jobs (EU-weit 28,6 Millionen). So trugen sie signifikant zu geringerer Arbeitslosigkeit bei. Das zeigt eine Analyse des Momentum Instituts auf Basis einer Studie von Jan Drahokoupil und Torsten Müller des European Trade Union Institute. Demnach gibt es einen Zusammenhang zwischen Ausgaben für arbeitsplatzsichernde Maßnahmen und der jeweiligen Arbeitslosenquote: Länder, die mehr für Kurzarbeit, Lohnkostensubventionen oder temporärer Beurlaubung ausgegeben haben, verzeichneten tendenziell auch geringere Arbeitslosigkeit im Jahr 2020. So war die Arbeitslosigkeit etwa in Portugal, Finnland oder Litauen bei geringen Staatsausgaben besonders hoch, während Malta, das Vereinigte Königreich, die Niederlande und auch Österreich bei höheren Ausgaben eine geringere Arbeitslosenquote aufwiesen. Laut Drahokoupil und Müller gibt Österreich etwa 1,6% des BIP für Kurzarbeit aus, was über dem EU-Schnitt von 1,1% liegt. Österreich befindet sich damit an 7. Stelle in der EU27. Mit einer Arbeitslosenquote von 5,4% (laut Eurostat Definition) belegte Österreich im Jahr 2020 in der EU27 Platz 10.

Anmerkung: Drahokoupil und Müller unterscheiden europaweit zwischen drei Maßnahmen, die jeweils das Ziel haben, Arbeitslosigkeit zu verringern: Lohnkostensubvention, Kurzarbeit und temporäre Beurlaubung. Ersteres bedeutet, der Staat übernimmt Lohnkosten, während Angestellte gleich viel weiterhin arbeiten, während Kurzarbeit und temporäre Beurlaubung die Arbeitszeit reduzieren und die Differenz des Gehaltsverlustes zahlen (bei temporärer Beurlaubung wird die Arbeitszeit im Gegensatz zur Kurzarbeit auf 0 reduziert).

Fast jede:r sechste:r Beschäftigte:r in der EU profitierte von Staatshilfen

In Österreich war am Höhepunkt etwa ein Viertel aller Beschäftigten in Kurzarbeit, EU-weit waren es 28,6 Millionen Menschen. Das bedeutet, dass rund 15% bzw. jede:r 6. Beschäftigte:r der EU von Staatshilfen zur Arbeitsplatzsicherung profitierte (gemessen an allen Beschäftigten zwischen 15 und 64 Jahren 2020 laut Eurostat (192 Mio.)). 

Um mehr Arbeitsplätze zu sichern, muss natürlich auch mehr Geld ausgegeben werden. Das bestätigt der Zusammenhang zwischen dem Anteil der Personen in Kurzarbeit (o.Ä.) und den Ausgaben für arbeitsplatzsichernde Maßnahmen. Je mehr Geld zur Verfügung gestellt wird, desto mehr Menschen können in Kurzarbeit gehen und geschützt werden. Die obige Grafik verdeutlicht diesen Zusammenhang: Sie zeigt Beschäftigte in Kurzarbeit o.Ä. am Höhepunkt der Krise 2020 als Anteil aller Beschäftigten und die Gesamtausgaben für das Jahr 2020 gemessen am BIP pro Land.

Keine Krisenbewältigung in Europa ohne arbeitsplatzsichernde Maßnahmen

Gesammelte Daten der Studie zeigen außerdem, dass sich am Krisenhöhepunkt 2020 europaweit (EU27 plus Norwegen, Schweiz, UK) mehr als 38 Millionen Menschen in arbeitsplatzsichernden Maßnahmen befanden. In der EU waren es am Krisenhöhepunkt April 2020 mehr als 28 Millionen Arbeitnehmer:innen.

Die Kurzarbeit war und ist also ein Instrument von immenser Bedeutung, um Arbeitsplätze zu sichern und die Arbeitslosenquote gering zu halten. Die Stabilisierung des Arbeitsmarktes und Reduktion der Arbeitslosigkeit sind wichtige Grundpfeiler der Krisenbewältigung. Aber auch abseits der Krise sollte die Wichtigkeit staatlicher Eingriffe nicht in Vergessenheit geraten. Wenn der Arbeitsmarkt aus unterschiedlichen Gründen versagt, kann der Staat eingreifen und Arbeitslosigkeit verringern.

Mehr dazu hier: https://www.momentum-institut.at/corona-hilfe-verteilung-oesterreich und https://www.momentum-institut.at/news/corona-brachte-explosion-unternehmenssubventionen

Link zu Studie: https://etui.org/publications/job-retention-schemes-europe

Arbeitskräftemangel, hausgemacht.

Der Fachkräftemangel lässt sich oft auf niedrige Löhne zurückführen

Die Mehrheit der Unternehmen in Berufen mit einem beklagten „Arbeitskräftemangel“ sucht Mitarbeiter:innen zu Mindest-Kollektivvertragsgehältern. Die erwartbare Reaktion auf einen Mangel, höhere Löhne anzubieten, bleibt bei vielen Unternehmen bisher aus. Das Momentum Institut hat die beim Arbeitsmarktservice (AMS) inserierten Stellenanzeigen und die Gehaltsangaben dazu analysiert.

Österreichs Wirtschaft erlebt einen starken Aufschwung. Viele Betriebe – unter anderem jene, die während der Lockdowns auf Kündigungen statt auf Kurzarbeit gesetzt haben – suchen wieder Mitarbeiter:innen. Das schlägt sich in der Zahl der offenen Stellen nieder. Nachdem Ende Dezember 2020 mit knapp 50.000 die niedrigste Zahl der beim Arbeitsmarktservice (AMS) gemeldeten Stellen seit über vier Jahren registriert wurde, sind mit Stand Ende August 126.000 Stellen ausgeschrieben.

Dennoch wird von Wirtschaftskammer, einigen Unternehmer:innen (speziell aus den Branchen Gastronomie, Hotellerie sowie aus Bäckereien), Wirtschaftsbund, Industriellenvereinigung und dem Arbeitsminister vermehrt ein Mangel an Arbeitswilligkeit beklagt. Der Tenor dabei ist, dass die Höhe des Arbeitslosengeldes die Arbeitslosen davon abhielte, Jobs anzunehmen. Die Vorschläge zur „Behebung“ des Arbeitskräftemangels reichen dabei von einem degressiven Arbeitslosengeld, das nach einem gewissen Zeitraum unter das derzeitige Notstandshilfeniveau absinkt, bis zu verschärften Zumutbarkeitsbestimmungen für Langzeitarbeitslose, einer Streichung der Zuverdienstgrenze für Arbeitslose, und einem erzwungenen Abrutschen aus der Notstandshilfe in die Mindestsicherung.

Fachkräftemangel: Köchinnen und Köche sind heiß begehrt aber schlecht bezahlt

Der Markt regelt es, bis er es nicht mehr tut.

Findet ein Unternehmen nicht ausreichend Mitarbeiter:innen, müsste es den Gesetzen des Marktes folgend die Löhne erhöhen oder die Arbeitsbedingungen verbessern. Doch mehr als die Hälfte der offenen Stellen nennt Gehälter im Bereich der Mindesthöhe der Kollektivverträge. Eine Bereitschaft zur Überzahlung – wie wohl oft genannt – wird de facto nie konkret in Euro angegeben. Der Mitarbeitermangel ist damit bei einem Teil der Betriebe hausgemacht. Dennoch dürften Arbeitslose viele dieser Stellen trotz Bezahlung an der Untergrenze annehmen.

Fachkräftemangel: Jobangebote sind nur kurz ausgeschrieben

Wie lange werden Arbeitskräfte gesucht?

Die Inserate in den ausgewählten Berufen sind nur geringfügig länger online als die gesamten beim AMS gemeldeten offenen Stellen. Selbst in Tourismusregionen gibt es beim Alter der Stellenanzeigen kaum Abweichungen vom Üblichen. Das ist ein Zeichen, dass der generelle Mangel an Arbeitsplätzen noch nicht vorbei ist und selbst viele Betriebe mit niedrigen Gehaltsangeboten noch immer Mitarbeiter:innen finden.

Handlungsempfehlungen

  • Unternehmen, die Schwierigkeiten haben, ihr gewünschtes Personal zu finden, müssten die Entlohnung erhöhen bzw. die Arbeitsbedingungen verbessern. Konkrete Gehaltsangebote über dem Mindest-Kollektivvertrag motivieren mehr Menschen, sich bei Unternehmen mit Rekrutierungsschwierigkeiten zu bewerben.
  • Ein genereller Mindest-Kollektivvertragslohn in Höhe von EUR 1.800 könnte helfen unbeliebte Niedriglohn-Branchen aufzuwerten. Berufe, mit denen man bisher schlecht sein Auskommen bestreiten konnte, weil sie teils weit niedrigere Gehälter bieten, würden so im Vergleich zu anderen Berufen attraktiver werden und Arbeitskräfte anlocken.

Die detaillierte Analyse gibt es hier als Download:

Arbeitslose zu triezen ist der falsche Weg

Eine Ex-Arbeitslose erzählt: Der Zusatzjob hat mir mehr gebracht als das AMS

Wenn wir über Arbeitslosigkeit sprechen, tun wir das oft voller Vorurteile, Klischees und Stigmata. Anekdoten aus der Chefetage gelten als ernst zu nehmender Debattenbeitrag. Dabei kommen die tatsächlich Betroffenen nicht zu Wort. Immerhin geht es laut den jüngsten Zahlen um mindestens 350.000 Menschen in Österreich. 

Das Momentum Institut hat mehr als 1.200 Arbeitslose befragt. Die Resultate sind niederschmetternd: Das Arbeitslosengeld erfüllt das Ziel der Existenzsicherung nicht: Neun von zehn Befragten liegen mit unter 1.200 Euro monatlichem Einkommen deutlich unter der Armutsgrenze.
 
Acht von zehn Arbeitslosen verloren ihren Job unfreiwillig: Sie wurden gekündigt, der Betrieb geschlossen, die Saison war zu Ende.  Jene arbeitslosen Menschen, die selbst gekündigt haben, sind hingegen zumeist beruflich und finanziell bessergestellt.  Die allermeisten Arbeitslosen, waren vorher in Berufen, die schlecht bezahlt und wenig angesehen sind.

So gut wie alle Befragten suchen aktiv nach Beschäftigung. Je länger die Arbeitslosigkeit dauert, desto mehr Bewerbungen müssen sie versenden, um überhaupt zum Bewerbungsgespräch eingeladen zu werden. Bereits nach sechs Monaten müssen Arbeitslose im Schnitt 14 Bewerbungen versenden, um nur eine Einladung zu bekommen. Und entgegen landläufigen Vorurteilen: Langzeitarbeitslose und Arbeitslose mit Nebenverdienst suchen genauso intensiv nach einem Job. 

Knapp 60 Prozent schämen sich für ihre Arbeitslosigkeit, beinahe jeder zweite versucht zu verheimlichen, dass er arbeitslos ist. Die Belastung, die Arbeitslosigkeit mit sich bringt, zeigt sich auch bei psychosomatischen Beschwerden, beispielsweise bei depressiven Gedanken: Während 4 Prozent der Beschäftigten darunter leiden, sind es 19 Prozent der Arbeitslosen und 38 Prozent der Langzeitarbeitslosen. 

7 von 10 Arbeitslosen sagen, die Politik behandle sie als Menschen zweiter Klasse. Ganz von der Hand zu weisen ist das nicht. Die Daten sollten wachrütteln, zu befürchten ist aber, dass das Gegenteil passiert: aktuell gilt das Herumschrauben an der Arbeitslosen-Versicherung als Wundermittel gegen Arbeitslosigkeit. Wem zu Arbeitslosigkeit nur die Arbeitslosen als Schuldige einfallen, dem gehen in der Arbeitsmarktpolitik allzu schnell die Ideen aus. Dabei geht die Rechnung nicht auf: Wenn auf jede offene Stelle mehrere Arbeitslose kommen, dann kann man Arbeitslosen noch so triezen, sie werden keinen Job finden. 

Wie können wir den Aufschwung so weit stärken, um das Arbeitslosigkeits-Niveau dauerhaft zu senken? Es empfiehlt sich ein öffentliches Beschäftigungsprogramm, das hilft, die stark steigende Langzeitarbeitslosigkeit in den Griff zu bekommen. Die Arbeitslosen sind jene, die aktuell die oft beschworenen „Krisen-Kosten“ zahlen, mit starken Einbußen. Österreichs Arbeitslosengeld ist im Europa-Vergleich schließlich besonders niedrig. Dabei ist es eigentlich ganz einfach: Arbeitslosigkeit bekämpft man nicht, indem man Arbeitslosen mutwillig das Leben schwer macht. 
 

Der Kommentar erschien zunächst in der "Wiener Zeitung".

Arbeitslosen-Monitor: Acht von zehn Arbeitslosen verloren Job unfreiwillig

Arbeitslosigkeit Arbeitslose Arbeitslosen-Monitor

Arbeitslosigkeit ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Die Ursache dafür, dass Menschen arbeitslos werden und bleiben, liegt meistens bei den Betrieben und der gesellschaftlichen Stigmatisierung, die mit Arbeitslosigkeit einhergeht. Fast alle arbeitslosen Menschen (95 Prozent) suchen aktiv nach Beschäftigung. Obwohl 83 Prozent der Arbeitslosen durchschnittlich sechs Bewerbungen im Monat versenden, werden sie nur einmal im Monat zu einem Bewerbungsgesprächen eingeladen, bestimmte Gruppen noch viel seltener.

Zu diesen Ergebnissen kommt eine neue SORA-Studie "Arbeitslosen-Monitor" im Auftrag des sozialliberalen Momentum Instituts, für die 1.844 Menschen im Alter von 15 bis 64 Jahren im Zeitraum Mai bis Juli 2021 befragt wurden. 1.215 Interviewpartner:innen waren zum Befragungszeitpunkt arbeitslos, davon 332 langzeitarbeitslos. Es handelt sich um die erste repräsentative Studie zur Situation von Arbeitslosen dieser Größenordnung in Österreich seit Beginn der Corona-Pandemie.

Arbeitslosengeld versagt bei Existenzsicherung

Arbeitslose Menschen in Österreich leben in prekären ökonomischen Verhältnissen. Seit sie ihren Job verloren haben, müssen 97 Prozent der Befragten mit unter 1.400 Euro netto im Monat auskommen. Rund neun von zehn Arbeitslosen erhalten nun weniger als 1.200 Euro monatlich. Für viele bedeutet das ein Leben an der Armutsgrenze, die für einen Ein-Personen-Haushalt bei 1.328 Euro liegt. Berücksichtigt man die unterschiedlichen Haushaltsformen, leben zwischen 51 Prozent und 66 Prozent aller Arbeitslosen in einem armutsgefährdeten Haushalt.

Die hohe Gefahr, aufgrund von Arbeitslosigkeit in Armut abzurutschen, liegt einerseits am international vergleichsweise niedrigen Arbeitslosengeld in Österreich, das als Grundbetrag nur 55 Prozent des vorherigen Nettoeinkommens ausbezahlt. Andererseits verlieren Menschen mit niedrigeren Arbeitseinkommen häufiger ihren Job. Finanziell besonders hart trifft es daher jene Menschen, die bereits vor ihrer Arbeitslosigkeit weniger verdient hatten: 63 Prozent der befragten Arbeitslosen verdienten im letzten Job weniger als 1.400 Euro netto pro Monat – die meisten, weil sie keinen Vollzeit-Job hatten.

In vielen Fällen versagt das Arbeitslosengeld in seiner Funktion der Existenzsicherung. Drei von vier Arbeitslosen müssen Notmaßnahmen treffen: Mehr als die Hälfte aller Arbeitslosen (58 Prozent) braucht zusätzlich zum Arbeitslosengeld eigene Ersparnisse auf – sofern vorhanden. Andere sind wiederum auf Gelegenheitsarbeiten angewiesen. Ein Viertel aller Arbeitslosen muss Freund:innen oder Familienmitglieder um Geld bitten.

Armut im Sinne finanzieller Deprivation liegt unter Arbeitslosen 3,5-mal so hoch wie unter abhängig Beschäftigten, d. h. 47 Prozent können sich vier von sieben Grundbedürfnisse nicht mehr leisten. Unerwartete Ausgaben sind für 75 Prozent der befragten Arbeitslosen existenzbedrohend. Vier von zehn Arbeitslosen können sich bei Bedarf keine neue Kleidung kaufen. Zwischen einem Viertel und einem Fünftel aller Arbeitslosen kann es sich nicht leisten, mehrmals die Woche Fleisch, Fisch oder eine entsprechende vegetarische Speise zu essen oder die gesamte Wohnung warm zu halten. 18 Prozent glauben nicht, dass sie die nächsten sechs Monate die Miete bezahlen werden können.

3 von 4 Arbeitslose haben Arbeitslosigkeit nicht gewählt

Arbeitslose sind an ihrer Situation nicht selbst schuld: Von 100 Arbeitslosen wurden nur 4 auf eigenen Wunsch im Zuge einer einvernehmlichen Kündigung arbeitslos. Nur 8 haben selbst gekündigt oder ihre selbständige Tätigkeit aufgegeben. Drei von vier Arbeitslosen wurden gekündigt oder aufgrund betrieblicher Umstände arbeitslos, auf die sie selbst keinerlei Einfluss haben.

Arbeitslose, die von sich aus gekündigt haben, sind zumeist beruflich und finanziell bessergestellt. Dies zeigt sich etwa am engen Zusammenhang zwischen den Gründen für die Arbeitslosigkeit und der höchsten Ausbildung: Mehr als 80 Prozent aller Betroffenen mit maximal Lehrabschluss wurden von ihrem Betrieb gekündigt, weniger als 10 Prozent haben von sich aus den Job aufgegeben. Bei arbeitslosen Akademiker:innen hat hingegen mehr als die Hälfte entweder selbst gekündigt oder nennt andere Gründe (etwa dass sie nach Ende ihrer Ausbildung keinen Job gefunden hätten). Diese Unterschiede spiegeln sich auch zwischen den Erwerbsklassen: 42 Prozent aller ehemaligen Beschäftigten in einer Managementposition haben selbst gekündigt, während z. B. 84 Prozent aller Produktionsarbeiter:innen und 88 Prozent aller Dienstleistungsarbeiter:innen von ihrem Betrieb gekündigt wurden.

Die Risiken für Arbeitslosigkeit sind ungleich verteilt. Zwar glauben 97 Prozent der Menschen in Österreich, dass Arbeitslosigkeit jede:n jederzeit treffen kann. Großteils betroffen sind jedoch vor allem Arbeiterinnen und Arbeiter in der Produktion oder Dienstleistung, oft in Berufen, die gesellschaftlich wenig angesehen und unterdurchschnittlich bezahlt sind. Die Mehrheit der Arbeitslosen (70 Prozent) ging zuvor einem Beruf mit niedrigerem sozioökonomischen Status nach, der zu 60 Prozent auch gesellschaftlich wenig angesehen ist.

Arbeitslose suchen aktiv nach Arbeit – und werden kaum zu Bewerbungsgesprächen eingeladen

Fast alle (95 Prozent) arbeitslosen Menschen suchen aktiv nach Beschäftigung. Sie wenden dafür unterschiedliche Strategien an. Zu den häufigsten Suchstrategien zählen die Recherche im Internet (72 Prozent) und/oder in Zeitungen (35 Prozent) sowie Vermittlungsvorschläge des AMS (65 Prozent). 83 Prozent aller Arbeitslosen haben sich in den letzten vier Wochen für einen neuen Job beworben, diese verschickten im Schnitt sogar sechs Bewerbungen. Zu Bewerbungsgesprächen eingeladen werden sie durchschnittlich jedoch nur einmal pro Monat. Auf sechs Bewerbungen kommt also nur eine Einladung.

Signifikant geringer sind die Chancen auf eine Bewerbungseinladung für Frauen, ältere Arbeitslose, Arbeitslose mit maximal Lehrabschluss. Auch die Dauer der Arbeitslosigkeit spielt eine Rolle: Bereits nach sechs Monaten müssen Arbeitslose im Schnitt 14 Bewerbungen versenden, um eine Einladung zu erhalten. Obwohl sich Langzeitarbeitslose genauso häufig bewerben, werden sie noch viel seltener zu Bewerbungsgesprächen eingeladen. Das spiegelt sich auch in ihrer Selbstwahrnehmung wider: 8 von 10 Langzeitarbeitslosen schätzen ihre eigenen Einflussmöglichkeiten darauf, einen neuen Job zu finden, als gering ein.

Stigmatisierung von Arbeitslosen

Arbeitslosigkeit ist mit gesellschaftlichen Vorurteilen besetzt, die mit der realen Situation von arbeitslosen Menschen kaum zu tun haben. Beschäftigte unterschätzen die Anstrengungen von Arbeitslosen, einen Job zu finden, enorm, überschätzen aber deren finanzielle Situation in der Arbeitslosigkeit deutlich.

Der Status, den die Gesellschaft Arbeitslosen zuschreibt, spiegelt sich auch in der Selbstwahrnehmung von arbeitslosen Menschen wider. Besonders gravierend ist der Verlust von Sinn und Nützlichkeit in der Arbeitslosigkeit. 6 von 10 Arbeitslosen haben das Gefühl, sie seien kein wertvoller Teil der Gesellschaft mehr. Dies zeigt, wie stark das Selbstwertgefühl von Menschen heutzutage an Erwerbsarbeit geknüpft ist. Unter Arbeitslosen sinkt der Selbstwert, gleichzeitig steigt das Gefühl der Scham und Exklusion. Knapp 60 Prozent aller Arbeitslosen schämen sich für ihre Arbeitslosigkeit und versuchen zu verheimlichen, dass sie arbeitslos sind.

Wie Arbeitslosigkeit Alltag und Gesundheit beeinflusst

Durch das niedrige Arbeitslosengeld werden 80 Prozent der Arbeitslosen in ihrem Lebensalltag stark eingeschränkt („die Dinge tun, die ich will“). Die Hälfte kann aufgrund des Wegfalls ihres Einkommens soziale Kontakte nicht mehr so häufig pflegen, wie sie es eigentlich gerne möchte. Die Situation verschärft sich mit der Dauer der Arbeitslosigkeit: Während 59 Prozent aller Beschäftigten sagen, ihr Einkommen erlaube es ihnen, Dinge zu tun, die sie wollen, sind es unter Langzeitarbeitslosen nur noch 8 Prozent. 6 von 10 Langzeitarbeitslosen können aufgrund von Armutsgefährdung soziale Kontakte kaum mehr pflegen.

Mehr als jede:r vierte Arbeitslose hat mindestens ein psychosomatisches Symptom. Besonders belastet sind Langzeitarbeitslose: 38 Prozent leiden unter depressiven Gedanken, 31 Prozent unter Nervosität und Ängstlichkeit, 28 Prozent unter unkontrollierbaren Sorgen und 27 Prozent unter Einschlafproblemen. Fast die Hälfte (46 Prozent) aller Langzeitarbeitslosen leidet unter mindestens einem Symptom, mehr als jede:r zehnte sogar unter allen vier.

Die zunehmende Kluft zwischen Arbeitslosen und jenen, die Arbeit haben, zeigt sich auch darin, wie schlecht sich arbeitslose Menschen von der Politik vertreten fühlen: Sieben von zehn Arbeitslosen fühlen sich von der Politik als Menschen zweiter Klasse behandelt. Nur drei von zehn arbeitslosen Menschen sehen sich im österreichischen Parlament gut vertreten.

Die Ökonom:innen des Momentum Institut empfehlen folgende Maßnahmen zum Thema Arbeitslosigkeit:

  • Erhöhung des Arbeitslosengelds auf 70 Prozent Nettoersatzrate zur Armutsbekämpfung.
  • Existenzsichernde Löhne: Niedriglöhne und hohe Teilzeitquoten führen auch zu niedrigen Sozialleistungen. Ein Mindestlohn von 1.800 Euro für Vollzeit-Arbeit ist empfehlenswert. Davon würden vor allem Frauen profitieren.
  • Öffentliche Beschäftigungsprogramme zur Bekämpfung von Langzeitarbeitslosigkeit. Beschäftigungsprogramme sind eine effektive Möglichkeit, Langzeitarbeitslosigkeit zu bekämpfen, die sich sonst zu verfestigen droht – mit allen negativen Auswirkungen für lange arbeitslose Menschen. Der Modellversuch Arbeitsplatzgarantie Marienthal des AMS sollte ausgeweitet werden.

 

97 Prozent der Arbeitslosen mit Zusatzjobs suchen intensiv nach fester Anstellung

Bewerbungsgespräch Arbeitslosigkeit Gelegenheitsjob Zuverdienst

Wer sich in der Arbeitslosigkeit mit Gelegenheitsjobs über Wasser hält, sucht genauso intensiv nach Arbeit wie Arbeitslose ohne Zuverdienst. Das SORA Institut hat im Auftrag des Momentum Instituts 1.214 arbeitslose Menschen in einer repräsentativen Studie zu ihrer Situation befragt. Eine Spezialauswertung der Daten in Bezug auf Gelegenheitsjobs unter arbeitslosen Menschen zeigt, dass 97 Prozent auch mit Zuverdienst aktiv nach Jobs suchen.

31 Prozent der befragten arbeitslosen Menschen geben an, dass sie Gelegenheitsjobs annehmen. Ihre Suche nach einem sozialversicherungspflichtigen Job geben sie dennoch nicht auf. In der Befragung zeigt sich kein Unterschied in der Suchintensität.

97 Prozent der Arbeitslosen mit Gelegenheitsjobs geben an, dass sie aktiv nach Arbeit suchen. Jene ohne Zuverdienst tun das zu 94 Prozent. Im Schnitt wenden sie 2,8 verschiedene Suchstrategien an, circa genau so viele wie jene ohne Zuverdienst. In der Art der Suche gibt es nur minimale Unterschiede. Arbeitslose mit Gelegenheitsjobs suchen etwas häufiger in Zeitungsinseraten (38 Prozent zu 34 Prozent) und im direkten Kontakt mit Betrieben (26 Prozent zu 21 Prozent), häufiger über das AMS (73 Prozent zu 61 Prozent) und im Bekanntenkreis (44 Prozent zu 27 Prozent), als Arbeitslose ohne Zuverdienst. Etwas weniger suchen sie mittels Internet (68 Prozent zu 74 Prozent) oder schalten selbst ein Jobgesuch im Internet (20 Prozent zu 23 Prozent).

Arbeitslose Menschen mit Zuverdienst bewerben sich aktiv: Im Schnitt haben sie in den letzten vier Wochen fünf Bewerbungen verschickt, genauso viele wie jene ohne Zuverdienst. Einen Unterschied gibt es jedoch in der Antwort auf die Bewerbungen. Nur 27 Prozent der befragten arbeitslosen Menschen mit Zuverdienst haben von einem Betrieb eine Einladung zu einem Bewerbungsgespräch erhalten, während es 43 Prozent der Arbeitslosen ohne Zuverdienst waren.

Das deckt sich mit der Selbsteinschätzung. Arbeitslose mit Zuverdienst schätzen die Wahrscheinlichkeit, in den nächsten sechs Monaten einen neuen Job zu finden, auf nur noch 39 Prozent. Zum Vergleich: Arbeitslose, die nicht dazuverdienen, schätzen die Wahrscheinlichkeit auf 53 Prozent. 78 Prozent aller Arbeitslosen, die dazuverdienen, schätzen ihre eigenen Einflussmöglichkeiten darauf, eine neue Stelle zu finden, als gering ein. Ein Grund dafür ist, dass ein knappes Drittel (31 Prozent) schon Diskriminierungen bei Stellenbewerbungen erlebte. Trotz gleicher Intensität der Arbeitssuche finden sie seltener einen Job.

Niedriges Arbeitslosengeld zwingt Menschen, Gelegenheitsjobs anzunehmen

Jene Arbeitslosen, die in der Arbeitslosigkeit mit Gelegenheitsjobs dazuverdienen, haben vor der Arbeitslosigkeit tendenziell schon weniger verdient: 85 Prozent haben weniger als 1.600 Euro netto im Monat verdient. In der Arbeitslosigkeit liegt das Einkommen bei 84 Prozent unter 1.000 Euro pro Monat. Väter halten häufiger Gelegenheitsjobs als kinderlose Männer (46 Prozent zu 36 Prozent), Mütter häufiger als kinderlose Frauen (27 Prozent zu 21 Prozent).

Höhere Armutsgefährdung unter Arbeitslosen mit Zuverdienst

Mit zunehmender Dauer der Arbeitslosigkeit steigt auch der Anteil an Arbeitslosen, die dazuverdienen: 40 Prozent aller Arbeitslosen, die einem Zuverdienst nachgehen, sind langzeitarbeitslos. Trotz Zuverdienst sind die Arbeitslosen mit Gelegenheitsjob armutsgefährdeter als die Gruppe ohne Zuverdienst. Zwischen 63 Prozent und 75 Prozent der Arbeitslosen mit Zuverdienst gelten als armutsgefährdet, basierend auf ihrem Haushaltseinkommen und ihrer Haushaltssituation. Vor allem aber: 4 von 10 gelten als arm. So sagen 60 Prozent, sie könnten sich keine neue Kleidung kaufen bei Bedarf. Unter den Arbeitslosen ohne Zuverdienst trifft das auf 30 Prozent zu.

Sozialleistungsbetrug: Manche sind gleicher

Schild Achtung Staatsgrenze_Grenzübertritte als Sozialleistungsbetrug

Anfang August rückte die Finanzpolizei zu einer Großaktion aus. 180 Bedienstete des Finanzministeriums sowie der zuständigen Landespolizeidirektionen straften 180 Sozialleistungsbezieher, die ihre Grenzübertritte nicht angemeldet hatten. Das Finanzministerium präsentierte den „großen Fang“ stolz den Medien. Im Netz landeten ganz kleine Fische: Eine Frau, die gelegentlich ihre Eltern in Tschechien besucht. Eine Asylwerberin, die - wohl um Geld zu sparen - in die Slowakei zum Einkaufen gefahren ist. Diese Nichtigkeiten werden als mutmaßlicher Sozialleistungsbetrug verfolgt und aufs Härteste bestraft. Wo bleibt da die Verhältnismäßigkeit?

Bewegungsradius von Sozialleistungsbezieher:innen eingeschränkt

Selbst wenn es sich um eine Versicherungsleistung handelt, für die man eingezahlt hat: Mit Sozialleistungen kommt oft eine extreme Einschränkung des Bewegungsradius. Arbeitslose Menschen müssen beim AMS alle Auslandsaufenthalte ankündigen. Ein spontaner Besuch im grenznahen Shopping-Center, wie ihn Leute in Grenzregionen gewohnt sind, ist für sie illegal. Ebenso der Besuch bei Verwandten im Nachbarort, liegt dieser auf der anderen Seite der Staatsgrenze. Im „vereinten Europa“ leben Sozialleistungsbezieher, meist arme Menschen, damit nur mehr am Papier.

Die Exekutive greift mit voller Härte des Gesetzes durch, kratzt armutsbetroffenen Menschen die sprichwörtliche Butter vom Brot: Wer seinen (kleinen) Grenzübertritt nicht anmeldet, muss rückwirkend die bezogenen Sozialleistungen zurückzahlen. Oben drauf kommen noch empfindliche Geldstrafen. Obwohl Sozialleistungsbezieher meist ohnehin kaum genug zum Leben haben. (Neun von zehn arbeitslosen Menschen erhalten ein Arbeitslosengeld unter 1200 Euro und nur 12 mal im Jahr.)

Unternehmen kommen oft ungestraft davon

Deutlich mehr Entgegenkommen können sich Unternehmen erwarten. Kapital, das vor allem Reiche ihr Eigentum nennen, darf oft uneingeschränkt reisen – auch, wenn das dem Staat teuer kommt, etwa durch das Verschieben von Gewinnen ins Ausland. So entgehen dem Fiskus jährlich hunderte Millionen an Steuereinnahmen, weil große Konzerne bzw. deren Besitzer ihre Gewinne in Steuersümpfen bunkern. Die großen Fische lässt man durchschlüpfen. Denn überprüft wird zu wenig, das Personal der Finanzämter für die Steuerprüfungen gekürzt, wie selbst der Rechnungshof kritisierte.

Die Dimension des Betrugs ist zudem viel größer: Überstunden im Wert von 682 Millionen Euro wurden allein im letzten Jahr nicht bezahlt, den Arbeitnehmern ihre Arbeitsleistung also gestohlen. Praktisch, dass die Verfallsfristen um Überstunden einzufordern zum Teil sehr kurz sind, oftmals ist schon nach 3 Monaten nichts mehr einklagbar. Eine Task Force der Regierung sucht man hier vergeblich. Dafür hat die Regierung noch laschere Regeln für Unternehmen beschlossen. Das “Kumulationsprinzip” bei Verwaltungsstrafen wurde abgeschafft. War es bisher so, dass eine fehlende oder falsche Zeitaufzeichnung für jeden Mitarbeiter einzeln bestraft wurde, gilt heute: Egal wie viele MitarbeiterInnen betroffen sind, die Strafe ist nur einmal fällig. Wer vorsätzlich manipuliert, kommt jetzt billiger davon. Die Wirtschaftskammer lobte ebenso wie die Industriellenvereinigung diesen Schritt als „spürbare Erleichterung für Unternehmen“. Der Wirtschaftsbund freute sich, dass nun “mit Augenmaß” vorgegangen würde.

Stigmatisierung von Sozialleistungsbezieher:innen trifft alle

Jenes Augenmaß, das auf der anderen Seite fehlt. Denn dass die Strafen bei Sozialleistungsdelikten für Arme unverhältnismäßig hart ausfallen, ist auch dem Finanzministerium klar. Warum die Symbolpolitik, Pressekonferenz für Pressekonferenz? Es geht eben auch darum, jene Stigmatisierung zu verstärken, mit der Sozialleistungsbezieher ohnehin zu kämpfen haben. Desto stärker man sie ins (hoch)kriminelle Eck rückt, desto einfacher ist es, den Bezug von Sozialversicherungsleistungen generell zu delegitimieren. Bis irgendwann hängen bleibt: Jeder Arbeitslose muss ein Krimineller sein.

Dieses Stigma ist nicht nur für die direkt Betroffenen ein Problem, sondern für alle. Bagatellisiert das Finanzministerium grobe Verletzungen des Arbeitsrechts auf Unternehmerseite, während es Gesetzesübertretungen auf Arbeitnehmerseite aufbläst, trifft das auch jene, die Arbeit haben und unter unfairer Bezahlung und miesen Arbeitsbedingungen leiden. Ihr Kampf dagegen wird erschwert, ihre Kraft dagegen aufzutreten im Keim erstickt. Denn eine Kündigung würde einen zum vermeintlich kriminellen Arbeitslosen machen. Der Sozialstaat verliert damit seine Schutzfunktion. Und zwar für alle.


Dieser Text erschien zunächst als Gastkommentar in DER STANDARD.

Ein starker Sozialstaat macht uns alle reicher

Hände übereinander_Sozialstaat macht alle reicher

Alle Jahre wieder rufen liberale Politiker und Denkfabriken den Tag der Steuerfreiheit aus. Sie zelebrieren den Zeitpunkt, ab dem sie sich nicht mehr an der Finanzierung des Gemeinwesens beteiligen müssen. Der Chef der deutschen Liberalen, Christian Lindner, schlug unlängst Alarm, weil ein Drittel der Wirtschaftsleistung Deutschlands mittels staatlicher Haushalte in Soziales fließt. Kaum macht die Pandemie Pause, beginnt auch in Österreich eine Diskussion, wie man die größte soziale Versicherungsleistung, die Pensionen, um Milliarden kürzen kann. All das ist besorgniserregend, denn der Sozialstaat wirken nicht nur in Krisenzeiten Wunder.

Der Sozialstaat wirkt individuell und gesamtgesellschaftlich

Österreichische Sozialleistungen schützten jährlich zumindest 600.000 Erwachsene vor Armut – das sind mehr Menschen als in Kärnten leben. Ohne Arbeitslosengeld, Familienbeihilfe, Krankenversicherung und Co. würde ein Viertel der Menschen in Österreich in Armut leben. Das bedeutet für einen Erwachsenen, mit weniger als EUR 1.328 pro Monat auszukommen (12 mal im Jahr). Es liegt auf der Hand, dass man damit nicht (gut) leben kann. Menschen in Armut sind statistisch häufiger chronisch krank oder schwerer gesundheitlich beeinträchtigt.

Der Sozialstaat reduziert nicht nur Armut, er macht uns alle reicher: Erstens erhöht die Umverteilung das Einkommen für Geringverdienende. Wer arm ist, gibt jeden zusätzlichen Cent für Grundbedürfnisse aus und kurbelt damit Konsum und Wirtschaftskreislauf an. Zweitens ist eine Reduktion der Ungleichheit klimafreundlich: Das einkommensstärkste Viertel in Österreich hat einen mehr als doppelt so hohen CO2-Fußabdruck als Menschen aus dem untersten Viertel. Drittens gefährdet hohe Ungleichheit die Demokratie, weil Reiche die Politik übermäßig beeinflussen. Zusätzlich zum Kreuz am Wahltag können sie etwa Lobbying betreiben oder an Parteien spenden, um ihre Interessen durchzusetzen – oft konträr den Interessen der Vielen. Im Nebenjob erleichtert der Wohlfahrtsstaat also sozial gerechten Klimaschutz und hilft, dass das Land besser funktioniert.

Lücken im Sozialstaat schließen

Doch er könnte noch viel mehr, wenn die Politik ihn ausbaut. Trotz des sozialen Netzes leben noch 931.000 Erwachsene in Armut. Für eines der reichsten Länder dieser Erde einige Hundertausende zu viel. Ein Riss im Netz ist das niedrige Arbeitslosengeld. Jede zweite Person, die über ein Jahr keinen Job findet, ist armutsgefährdet. Die in der Krise hart getroffene Gruppe der kleinen Selbstständigen musste Einkommenseinbußen über 40 Prozent hinnehmen, weil sie keinen rechtlichen Anspruch auf Einkommensersatz hatte. Eine verpflichtende Arbeitslosenversicherung hätte die Auswirkungen auf sie abfedern können. Eine weitere Baustelle tut sich bei Alleinerziehenden auf: Trotz Sozialleistungen ist noch jede Dritte der meist Frauen armutsgefährdet.

Angesichts dieser Zahlen wirkt eine Diskussion über Kürzungen im Sozialstaat wie eine Themenverfehlung. Zu groß sind die Lücken, die geschlossen werden müssen: Leistbares Wohnen, ein höheres Arbeitslosengeld, eine bessere Absicherung für Selbstständige und der Ausbau von Kinderbetreuung können vier nächste Schritte sein, um die verbleibende knappe Million Menschen aus der Armut zu holen.

 

Dieser Text erschien zunächst als Gastkommentar in der Wiener Zeitung.

Arbeitslosengeld: Die meisten Arbeitslosen leben unter der Armutsgrenze

Der Sozialstaat schützt fast 600.000 Menschen in Österreich vor Armut

Arbeitslose Menschen in Österreich leben in prekären ökonomischen Verhältnissen. In der Corona-Krise hat sich die Lage während der Arbeitslosigkeit weiter verschärft. Das zeigt eine Untersuchung von SORA im Auftrag des Momentum Instituts zur wirtschaftlichen Situation von Arbeitslosen in Österreich, für die 1.214 arbeitslose Personen repräsentativ ausgewählt und befragt wurden.

Finanzielle Situation vor und in der Arbeitslosigkeit

Das Arbeitslosengeld soll das materielle Überleben von Arbeitslosen sicherstellen. Seit sie ihren Job verloren haben, müssen 97 Prozent der Befragten mit unter 1.400 Euro netto im Monat auskommen. Rund neun von zehn Befragten erhalten unter 1.200 Euro monatliches Einkommen - 12 Mal, nicht 14 Mal im Jahr. Fast alle Arbeitslosen erhalten somit ein Einkommen, das an oder unter der Armutsgrenze für eine Person liegt. Die macht in Österreich 2021 für einen Ein-Personen-Haushalt 1.328 Euro aus. Fast alle Arbeitslosen könnten sich somit alleine nicht selbst erhalten. Nur das Zusammenleben und Kosten teilen mit Partnern oder anderen Personen ermöglicht einigen von ihnen die Flucht aus der Armutsgefährdung.

Das niedrige Einkommen der arbeitslosen Personen liegt einerseits am international vergleichsweise niedrigen Arbeitslosengeld in Österreich, das als Grundbetrag nur 55 Prozent des vorherigen Nettoeinkommens ausbezahlt. Einen Mindestbetrag gibt es beim Arbeitslosengeld nicht. Andererseits werden Menschen mit niedrigeren Arbeitseinkommen häufiger arbeitslos. Finanziell besonders hart trifft es daher jene Menschen, die bereits vor ihrer Arbeitslosigkeit ein geringes Einkommen hatten: 63 Prozent der befragten Arbeitslosen verdienten im letzten Job weniger als 1.400 Euro netto pro Monat.

Arbeitslose Frauen besonders gefährdet

In der unterschiedlichen Höhe des Arbeitslosengeldes spiegeln sich bestehende Ungleichheiten wider, etwa zwischen Männern und Frauen. So erhalten 52 Prozent der Frauen ohne Kind ein Arbeitslosengeld in der Höhe von maximal 800 Euro pro Monat, bei Männern ohne Kind sind es 30 Prozent. Noch deutlicher fällt der Unterschied bei Eltern aus: Während 55 Prozent aller Mütter maximal 800 Euro erhalten, sind es bei den Vätern nur 14 Prozent.

Arbeitslose auf zusätzliche Strategien zur Existenzsicherung angewiesen

In vielen Fällen versagt das Arbeitslosengeld in seine Funktion der Existenzsicherung. Drei von vier befragten Arbeitslosen müssen auf weitere Strategien zur Existenzsicherung zurückgreifen: Mehr als die Hälfte aller Arbeitslosen (58 Prozent) braucht zusätzlich zum Arbeitslosengeld auch eigene Ersparnisse auf – sofern vorhanden. Andere sind wiederum auf Gelegenheitsarbeiten angewiesen. Ein Viertel aller Arbeitslosen muss Freunde oder Familienmitglieder um Geld bitten.

Armutsgefährdung: materielle Sorgen, soziale Ausgrenzung

Die Armutsgefährdung liegt unter Arbeitslosen 3,5 mal so hoch wie unter abhängig Beschäftigten. Unerwartete Ausgaben sind für 75 Prozent der befragten Arbeitslosen existenzbedrohend: Sie wären aktuell nicht in der Lage, Ausgaben in der Höhe von 1.290 Euro zu finanzieren (1.290 Euro: monatliche Armutsgefährdungsschwelle lt. EU-SILC-Erhebungsbogen 2021). Ein einwöchiger Urlaub ist ebenfalls für drei Viertel der Befragten undenkbar. Vier von zehn Arbeitslosen können sich keine neue Kleidung kaufen. Zwischen einem Viertel und einem Fünftel aller Arbeitslosen kann es sich nicht leisten, mehrmals die Woche Fleisch, Fisch oder eine entsprechende vegetarische Speise zu essen oder die gesamte Wohnung warm zu halten. 18 Prozent glauben nicht, dass sie die nächsten sechs Monate die Miete bezahlen werden können. Die finanziell prekäre Situation der Arbeitslosen führt auch zu sozialer Ausgrenzung: Die Hälfte aller Arbeitslosen kann es sich etwa nicht leisten, Bekannte oder Familienmitglieder nach Hause zum Abendessen einzuladen.

Armutsgefährdung: Produktions- und Dienstleistungsarbeiter:innen besonders betroffen

Die Ursachen für die Armutsgefährdung findet man zum Teil bereits vor der Arbeitslosigkeit: In einigen Branchen sind die Löhne so gering, dass auch die Beschäftigten bereits als armutsgefährdet gelten. Besonders betroffen sind Arbeiter:innen im Produktions- und Dienstleistungssektor:  Handwerker:innen oder Logistikmitarbeiter:innen erleben die Arbeitslosigkeit ebenso wie Kinderbetreuer:innen, Pflegebeschäftigte oder Supermarktangestellte mehrheitlich als existenzbedrohend.